Übersetzungen: Scheitern als Chance

Übersetzungen von einer Sprache in die andere sind immer schwierig. Der Philosoph Walter Benjamin hat dazu einen wichtigen Aufsatz geschrieben, der selbst oft übersetzt wurde. Wie es dabei zu produktiven Missverständnissen gekommen ist, beschreibt die Kulturwissenschaftlerin Birgit Haberpeuntner in einem Gastbeitrag.

Arkaden - Passagen: Momente der Unübertragbarkeit

Von Birgit Haberpeuntner

Die Schriften von Walter Benjamin, neben Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer einem der Großen – aber wohl Unorthodoxesten – aus dem Wirkungskreis der Frankfurter Schule, werden seit Langem wie „Heilige Texte“ behandelt.

Obwohl, oder doch eher weil, sie dunkel in ihrer Bildersprache sind, bilden sie in den Geistes- und Kulturwissenschaften wichtige Orientierungspunkte. Was passiert aber, wenn diese Texte in andere Sprachen übersetzt werden? Wie kann man Benjamin, z.B. auf Englisch, je „richtig“ verstehen, wenn seine Texte doch vor allem in ihrer komplexen Bildlichkeit als nahezu unübersetzbar gelten?

Birgit Haberpeuntner ist Doktorandin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien. Neben TFM studierte sie Anglistik, und verbrachte Studien- und Forschungsaufenthalte an der Concordia University in Montreal und an der Columbia University in New York. Seit Oktober 2015 ist sie als Junior Fellow am IFK.

Hier taucht das Problem der Unübertragbarkeit auf, das jede Übersetzung in sich trägt. Bezeichnenderweise geht es genau darum in einem von Benjamins Texten, der fortwährend zitiert wird. Es geht um „Die Aufgabe des Übersetzers“. Der Aufsatz wurde 1923 als theoretische Vorrede zu Benjamins eigener Übersetzung von Charles Baudelaires Gedichtzyklus Tableaux Parisiens publiziert. Ein Bild, das in diesem Text einen besonderen Stellenwert einnimmt, ist das der Arkade. Benjamins Idealform der Übersetzung bildet eine Arkade, da man durch sie hindurch gleichsam auf die Ausgangssprache blicken kann. Die Übersetzung ist keine Mauer, die das Original verdeckt; durch die Bögen der Arkade fällt Licht auf das Original.

Zur Unübertragbarkeit

Benjamins Arkade ist wörtlich zu nehmen. Das ist in der Übersetzung schwierig. Es kommt häufig zu Bedeutungsverschiebungen, vor allem durch die Verwechslung mit einer anderen architektonischen Form: der Ladenpassage des 19. Jahrhunderts. Die Passage steht im Zentrum von Benjamins unvollendetem Passagenwerk. 1927 beginnt Benjamin, sich mit den Passagen zu beschäftigen und sie bleiben bis zu seinem Freitod 1940 der Punkt seines Denkens, auf den sich alles andere bezieht.

Die glasüberdachten, von Geschäften gesäumten Durchgänge wurden im 19. Jahrhundert zu einer Handels- und Freizeitinnovation und zum Herzstück der Großstadt. Zum Ende des 19. Jahrhunderts verloren sie jedoch an Bedeutung. Sie wurden zu Relikten einer vergangenen Ära und für Benjamin zu „raumgewordener Vergangenheit“ (GS V, 1041).

Veranstaltungshinweis

Am 4.4. hält Birgit Haberpeuntner einen Vortrag mit dem Titel „‚Die Aufgabe des Übersetzers‘ jenseits der Sprache“.

Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften|Kunstuniversität Linz in Wien, Reichsratsstraße 17,1010 Wien; Zeit: 18 Uhr c.t.

Warum kommt es hier zu Verwechslungen? Im Deutschen erscheint die Unterscheidung klar; Arkaden und Passagen eröffnen ganz unterschiedliche Bezugsräume. Die Arkade verweist in Benjamins frühen Texten auf antike oder biblische Kontexte; die Passage bleibt dem 19. Jahrhundert verhaftet und wird zum Raum des Konsums und der Passanten. Die Arkade ist aus Stein; die Passage ist ein Raum, der durch den Einsatz neuer Materialien, Glas und Eisen, entsteht. Die Arkade ist eine raumhaltige Grenze zwischen Innen und Außen - zwischen dem Gebäude, dem sie vorgelagert ist, und dem öffentlichen Außenraum. Durchschreitet man sie längs, kann man jederzeit nach links oder rechts, nach innen oder außen, ausscheren. Die Passage ist ein innerer Zwischenraum: geschlossen, aber aufgrund der neuen Baumaterialien lichtdurchlässig. Schert man in ihr rechts oder links aus, befindet man sich nicht innen oder außen, sondern unweigerlich in einem Geschäft.

Englisch: Arkade = Passage

Im Englischen wird aber sowohl die Arkade aus dem Übersetzeraufsatz, als auch die Passage aus dem Passagenwerk, mit dem Wort „arcade“ übersetzt. Es liegt hier keine Fehlübersetzung vor. Denn schlägt man in englischen Architektur-Lexika unter „arcade“ nach, findet man tatsächlich beide Formen: die Arkade wie die Passage.

So wird aus der steinernen Arkade des Übersetzeraufsatzes „arcade“; und aus Benjamins Passagenwerk wird das Arcades Project. Damit geht das Bild der steinernen Arkade aus Benjamins Übersetzeraufsatz in der Übersetzung verloren: Durch den hohen Stellenwert, den die Passage in Benjamins Werk einnimmt, wird in dem englischen Begriff der „arcade“ fast ausschließlich die Passage des Spätwerks gelesen.

Diese Verschiebung hat der englischsprachigen Rezeption vieles leichter gemacht: Da nun in beiden Texten „arcades“ vorkommen, fällt es nicht schwer, zwischen dem Übersetzeraufsatz und dem Passagenwerk Verbindungen zu ziehen.

Vor allem im Zusammendenken von (Post)Kolonialismus und Übersetzung findet sich dieser argumentative Schritt oft: So verknüpft beispielsweise Tejaswini Niranjana (1992) den Übersetzer aus Benjamins Frühwerk mit dem materialistischen Historiker des Passagenwerks; Rey Chow (1995) dient die Verbindung zwischen Übersetzeraufsatz und Passagenwerk dazu, den Massenkulturaspekt der Passage hervorzuheben und Übersetzungsprozesse sicht- und nutzbar zu machen. So wird die „arcade“ in der englischsprachigen Rezeption zu einem verbindenden Element.

Konstitutive Störungen

Das Arkadenproblem gründet nicht in einer Fehlübersetzung; vielmehr sind solche Probleme ein konstitutiver Teil des Übertragungsprozesses, und als Momente erhellender Störung all jenen, die verstehen oder übersetzen wollen, bekannt.

Durch solche konstitutiven Momente der Störung betritt man einen abenteuerlichen Raum: Einen Schauplatz neuer unvorhergesehener Konstellationen, den Benjamin in seinem Denkbild „Neapel“ beschrieben hat. „Man meidet das Definitive, Geprägte. Keine Situation erscheint so, wie sie ist, für immer gedacht, keine Gestalt behauptet ihr ‚so und nicht anders‘.“ (GS IV, 309)

In Benjamins Texten stecken keine Antworten. Diese Einsicht ist ein erster Schritt, sich aus dem Schatten der Ehrfurcht vor den „Heiligen Texten“ zu lösen. Stattdessen ist in ihnen genau das eingeschrieben, was heute mit ihnen passiert: die Unabgeschlossenheit, Vorläufigkeit und Offenheit des Originals, an dem immer weitergeschrieben und weitergedacht wird.

Benjamins Texte können uns aber für die Erkundung dieses abenteuerlichen Raums eines mitgeben: eine Art zu lesen und zu denken, die von der Störung lebt, in der Nichtverstehen konstitutiv, und ein Original nie unveränderlich und versteinert bleibt.

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