Warum Herztumore so selten sind

Brust, Darm und Prostata werden häufig von bösartigen Tumoren befallen, Herz und Gehirn hingegen selten. Forscher haben dazu eine neue Hypothese aufgestellt: Aus Sicht der Evolution sind manche Organe schützenswerter als andere - und deshalb weniger krebsanfällig.

Herzkrebs gibt es zwar, ist beim Menschen allerdings überaus selten. Warum bösartige Tumore in einigen Organen häufiger als in anderen auftreten, ist umstritten: Einerseits spielen Umwelteinflüsse eine Rolle, denen manche Organe (zum Beispiel Lunge, Haut, Leber) stärker ausgesetzt sind.

Zum anderen gehen Forscher davon aus, dass sich verhältnismäßig mehr Mutationen ergeben, wenn sich Stammzellen häufiger teilen (zum Beispiel im Darm). Französische Forscher vom Center for Ecological and Evolutionary Cancer Research meinen nun, dass auch evolutionäre Faktoren dafür verantwortlich sind, wie gut oder schlecht sich ein Organ vor Mutationen schützen kann.

Hypothese: Evolution

„Organe, die essenziell zum Überleben beitragen, sind möglicherweise besser gegen Krebs geschützt“, so Evolutionsbiologe Frédéric Thomas. Laut seiner Hypothese sind Herz, Gehirn und Bauchspeicheldrüse weniger betroffen als Brust oder Darm. Außerdem, meint das internationale Forscherteam, müssten sich kleinere Organe besser schützen. Große, paarweise vorkommende Organe würden zwar öfter von Krebs befallen, dies sei aber aus Sicht der Evolution nicht so schlimm, da er ihnen weniger schnell schaden kann.

Walter Berger, Professor am Krebsforschungsinstitut der MedUni Wien sieht die Hypothese kritisch und nennt gleich ein Gegenbeispiel: “Erstens ist das Hirn mit Sicherheit kein kleines Organ und zweitens sind Gehirntumore nicht so selten.“

Dass sich Krebszellen weniger häufig im Herzen ansiedeln, erklärt er ganz praktisch damit, dass die Aktivität und Muskelreibung im Herzen so groß ist: Scherkräfte verhindern ein Ansiedeln von Krebszellen. „Außerdem müsste laut dieser Hypothese die Muskulatur am häufigsten von Krebs befallen sein“, so Berger, „und dies geschieht eher selten“.

Fortpflanzung hat Vorrang

Umwelteinflüsse und Stammzellenteilung fließen in die Forschung des internationalen Forscherteams um Frédéric Thomas zwar ein, sie begründen eine unzureichende Anpassung daran aber auch mit der Evolution: „Wir leben heute in einer Umwelt, die durch verschiedene krebserregende Substanzen verschmutzt ist“, so Thomas gegenüber science.ORF.at, „Diese Einflüsse gibt es aber aus evolutionärer Sicht erst seit Kurzem.“

Das bedeute, dass sich natürliche Abwehrmechanismen in einem Umfeld entwickelt haben, das ganz anders war, als es heute ist und die Evolution „im Licht dieser neuen Gefahren schlicht keine Zeit hatte, Mechanismen zur Vorbeugung von Krebs zu entwickeln.“ Der Grund dafür, dass Organe wie die Haut, die Lunge oder der Magen öfter unter Mutationen leiden, ist also vermehrt auf äußere Einflüsse zurückzuführen.

Dass die Gebärmutter zwar häufiger unter Mutationen leidet, diese aber relativ erfolgreich abwehrt, liegt jedoch nicht an äußeren Faktoren oder einer vermehrten Stammzellenteilung. Hier habe die Evolution ebenfalls ein Wörtchen mitzureden. Organe, die für die Fortpflanzung wichtig sind, genossen laut Thomas im Laufe der Evolution einen besonderen Schutz. „Die Phase vor und während der Fortpflanzung ist für eine Art am Wichtigsten. Deshalb hat die Evolution die dafür wichtigen Organe mit besseren Abwehrmechanismen ausgestattet“, so Thomas.

Laut dem Wissenschaftler können Organe wie einzelne Inseln betrachtet werden, die ein Ökosystem bilden. Jede „Insel“ weist bestimmte Lebensbedingungen auf und ist mehr oder weniger wichtig für den Erhalt des ganzen Lebensraums. Gewebe und Organe weisen unterschiedliche Milieus auf und jedes Organ hat eine bestimmte Form von Reparaturfähigkeit entwickelt. So habe die Evolution für jedes Organ eine bestimmte Fähigkeit zur Krebsabwehr hervorgebracht.

Reparatur evolutionsbedingt

„Unsere Genetik ist so programmiert, dass wir uns reproduzieren, also Kinder kriegen und sie gut aufziehen. Danach wird ein zu langes Leben in der Gesellschaft eher zur Belastung und das fließt beinhart in die Evolution ein“, insofern stimmt Walter Berger der Hypothese zu. Dies aber auf die Organe herunterzubrechen, sei zu einfach.

„Solche Dinge würden schon zu einer ‚Ökosystem-Erklärung’ passen“, so Walter Berger, „aber leider ist das alles etwas zu oberflächlich formuliert.“ Er meint, die Wissenschaftler hätten mehr mit Krebsforschern, Bioinformatikern, Systembiologen und Mathematikern zusammenarbeiten sollen.

Auch dass die Fähigkeit zur Reparatur evolutionsbedingt und in jedem Organ anders stark ausgeprägt ist, ist für Berger wahrscheinlich. „Deckgewebe, die sehr giftexponiert sind (zum Beispiel in der Lunge), können sich gut reparieren, sonst würden wir wahrscheinlich im Verkehr tot umfallen“, so Berger.

“Warum haben wir Krebs?“

„Alle Konzepte des Lebens und des Todes, an die wir gewohnt sind, sind an der Basis des Lebens - also bei einem Einzeller - noch nicht da“, so Berger. Schließlich habe sich eine Zelle nur um ihr eigenes Wohl zu kümmern. Erst durch die Entwicklung von multizellulären Organismen waren Mechanismen erforderlich, durch die Zellen zusammenarbeiten.

Laut Thomas mussten in diesem Schritt der Entwicklung Abwägungen gemacht werden: Welche Organe sind wichtiger für das Überleben und Fortbestehen einer Art und bei welchen wäre der Energieaufwand zu hoch, um sie zu schützen? Er meint: „Die Abwehr von Krebs wurde dadurch außergewöhnlich effizient, aber nicht perfekt. Mehrzellige Organismen könnten theoretisch noch wirksamere Mechanismen entwickeln, aber die Energiekosten wären zu hoch.“

Eine wesentliche Frage wird laut Walter Berger durch die Hypothese aber nicht beantwortet: „Warum hat sich die Evolution dafür entschieden, dass Krebs beim Menschen generell häufig vorkommt, beim Elefanten weniger und beim Nacktmull gar nicht?“

Alexa Lutteri, science.ORF.at

Mehr zu dem Thema: