„Ich würde handeln wie Merkel“

Politischer Kleingeist und Rassismus statt humanitärer Hilfe: Die Migrationsforscherin Dawn Chatty stellt der europäischen Flüchtlingspolitik ein schlechtes Zeugnis aus - mit Ausnahmen: Der deutschen Kanzlerin Angela Merkel zollt sie Anerkennung.

Seit gestern 18 Uhr ist in Syrien eine Waffenruhe in Kraft. Bleibt zu hoffen, dass sie anhält. Denn die Asylländer rund um Syrien sind längst an den Grenzen des Machbaren angekommen, resümiert Chatty in einem Interview. Was die europäischen Flüchtlingsstatistiken anlangt, rät sie zur Vorsicht: So manche Bilanz sei geschönt, Transparenz sehe anders aus.

science.ORF.at: Frau Chatty, die Lage in Syrien ist äußerst unübersichtlich - Hand aufs Herz: Blicken Sie durch?

Dawn Chatty: Ich glaube, dass niemand wirklich versteht, was gegenwärtig in Syrien passiert. Was viele Leute aus dem Westen erstaunlich finden, ist: 50 bis 60 Prozent der Syrer unterstützen die Assad-Regierung, weil sie nicht wollen, dass ihr Land zerfällt. Man könnte einen Vergleich zu Deutschland in den 30er Jahren und während des Zweiten Weltkrieges ziehen. Damals gab es Gerüchte, Deutschland würde von der Landkarte verschwinden, wenn Hitler endlich besiegt sei. Das wollten viele Deutsche nicht - auch wenn sie nicht alle Anhänger des Nazi-Regimes waren. So ähnlich ist das auch in Syrien: Die meisten unterstützten die Regierung, obwohl sie keineswegs damit einverstanden sind, was die Regierung tut. Es gibt Millionen Syrer, die sich nach wie vor weigern, das Land zu verlassen.

Migratiosnforscherin Dawn Chatty

University of Oxford

Dawn Chatty ist Professorin für Anthropologie und erzwungene Migration an der Universität Oxford. Von 2011 bis 2014 war sie Leiterin des Oxford Refugee Studies Centre.

Am 12.9. hielt Chatty bei der Jahrestagung österreichischer Migrations- und Integrationsforscher an der Universität Wien einen Vortrag: „The Syrian Humanitarian Crisis: Perceptions of Sustainability of Containment in the Region of Conflict“.

Ich war 2010 in Syrien - damals sagten schon manche: „Saudi-Arabien bringt Waffen ins Land, die Region wird bald explodieren.“ Ich hätte selbst noch im März 2011 erwartet, dass Assad klüger sein würde, dass er besonnen auf die Aufstände reagieren und sich die Lage wieder entspannen würde. Das war nicht der Fall. Wir wissen, dass auch der Iran und die Hisbollah sehr früh an dem Konflikt beteiligt waren - niemand blickt hier wirklich durch.

Könnten Sie die aktuellen Geschehnisse in einen historischen Zusammenhang stellen? Was ist das Besondere an dieser Region?

Syrien und die umgebenden Länder empfangen seit 150 Jahren Flüchtlinge und Migranten aus der Balkan-Region und aus dem Kaukasus. Viele haben auch polnische, rumänische, bulgarische und georgische Ursprünge - in Syrien gibt es eine lange Flüchtlingstradition der Integration ohne Assimilation. Die Wurzeln der Einwanderer wurden in diesem Land immer gepflegt.

Das erklärt auch, wie und warum ein Land wie der Libanon bereit war, 1,1 Millionen syrische Flüchtlinge aufzunehmen, obwohl das Land selbst nur vier Millionen Einwohner hat. Warum? Weil dort so viele Menschen soziale und verwandtschaftliche Bindungen zu Syrien haben. Ähnliches gilt auch für die Südtürkei und Jordanien. Dieser lokalen Weltoffenheit ist es zu verdanken, dass vier Millionen Syrer in drei Nachbarländern Zuflucht finden konnten. Doch nun, da der Krieg weitergeht und die Flüchtlingszahlen weiter steigen, muss man sagen: Es gibt keinen Platz mehr. Diese Asylländer sind überfüllt. Und nun klopfen die Flüchtlinge an die Tore der Festung Europa …

Bitte um eine Rekapitulation der Zahlen: Vier Millionen Flüchtlinge in Jordanien, im Libanon und in der Türkei. Wie viele hat Europa seit Beginn der Syrien-Krise aufgenommen?

Sendungshinweis

Über dieses Thema berichtet heute auch „Wissen aktuell“, 13.9., 13.55 Uhr.

Die vier Millionen in Jordanien, im Libanon und der Türkei sind bloß die offiziell Registrierten. Es gibt aber auch viele geflüchtete Syrer, die niemals Asyl beantragt haben, weil sie Angst haben, dann nicht mehr in ihr Land zurückkehren zu dürfen. Rechnet man diese hinzu, dann sind es in diesen drei Ländern um die sechs Millionen. Was Europa betrifft, sind die Zahlen schwer zu beurteilen. Es wird bewusst Fehlinformation gestreut, die Medien üben sich in Mythenbildung.

Letztes Jahr gab es etwa eine Meldung, Deutschland hätte bereits eine Million syrische Flüchtlinge aufgenommen - was falsch ist: Die Zahl betraf alle Migranten insgesamt - inklusive Afghanistan, Somalia, Eritrea und so weiter - aus Syrien kamen bis dahin ungefähr 600.000 nach Deutschland. Europaweit haben seit 2011 etwa eine Million Syrer um Asyl angesucht. Die EU hat insgesamt 500 Millionen Einwohner - ich denke, es sollte doch möglich sein, hier ein oder zwei Millionen Menschen für eine gewisse Zeit aufzunehmen.

In Österreich und anderen Ländern wird über eine „Obergrenze“ von Flüchtlingen diskutiert. Ein Tabubruch?

Schwer zu sagen, es kommt darauf an, wie diese Obergrenzen gestaltet sind. Ich vermute, dass in vielen Ländern auch eine Form des Rassismus eine Rolle spielt - und ich sage das mit aller Vorsicht: Während der Bosnienkrise waren einige europäische Länder gewillt, sehr viele Flüchtlinge in kürzester Zeit aufzunehmen.

Großbritannien etwa nahm in nur einem Jahr 75.000 Bosnier auf - und jetzt? 3.000 während der letzten fünf Jahre! Die meisten Bosnier sind Muslime, an der Religion liegt es offenbar nicht. Man muss sich die Frage stellen, woher die Rede von Obergrenzen stammt: Sie entstammt dem politischen Opportunismus. Wenn die Wirtschaft an Boden verliert, ist es nicht sehr verwunderlich, dass populistische Stimmen mehr Gehör finden.

Andererseits: Die wirtschaftliche Lage war, um beim Beispiel zu bleiben, im Großbritannien der 90er auch nicht so viel besser als sie es heute ist.

Das stimmt, wenn man eine wirtschaftliche Krise benennen sollte, dann die des Jahres 2008 - und davon haben sich die europäischen Länder, wenn auch langsam, erholt. Ich denke, in Großbritannien hat auch das überraschende Abstimmungsergebnis zum „Brexit“ Einfluss. Das Land ist gespalten, die Hälfte der Bevölkerung ist verunsichert - und nicht willens, Flüchtlinge ins Land zu lassen. In Großbritannien herrscht auch eine fatale Verwirrung um die Begriffe „Migrant“ und „Flüchtling“. Der Unterschied wurde bewusst vernebelt.

Gibt es unter den Syrern, die ihr Land verlassen haben, auch sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge?

So wie wir Flüchtlinge definieren, hat jeder Mensch, der Syrien verlässt, das Recht, als Flüchtling anerkannt zu werden. Es gab zwar in südeuropäischen Ländern die Praxis, Menschen aus Damaskus keinen Flüchtlingsstatus zuzuerkennen, weil man der Ansicht war, Damaskus sei eine sichere Stadt. Das ist aus meiner Sicht laut internationalem Recht falsch: Jeder, der vor Verfolgung und bewaffneten Konflikten flieht, ist ein Flüchtling.

Natürlich obliegt es den betroffenen Staaten, den Fall zu untersuchen und Asyl zu gewähren oder auch nicht. Aber ein wesentliches Element der Flüchtlingskonvention von 1951 ist - und diese Konvention hat auch Österreich nebst fast allen europäischen Ländern unterzeichnet: Man schickt Flüchtlinge aus kriegsführenden Ländern nicht wieder in ihre Heimat zurück. Das heißt: Auch wenn diese Menschen kein Asyl erhalten, haben sie Anrecht auf Schutz und humanitäre Hilfe.

Angenommen, Sie wären Politikerin, sagen wir: Angela Merkel. Was würden Sie tun?

Ich würde genauso handeln wie sie. Ich glaube, sie tut genau das Richtige. Man muss das nicht nur auf christliche Nächstenliebe zurückführen. Merkel hält sich an internationale Vereinbarungen und versucht, Menschen in Not so gut wie möglich zu helfen. Die Tragik ist, dass ihr die anderen europäischen Regierungschefs nicht gefolgt sind. Wären sie es, dann hätten wir jetzt keine Flüchtlingskrise.

Interview: Robert Czepel, science.ORF.at

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