Freispruch für „Patient Null“

Der Kanadier Gaëtan Dugas galt lange Zeit als „Patient Null“ - als jener Mann, der die Immunschwächekrankheit Aids in Amerika verbreitet hat. Genanalysen zeigen nun: Die Geschichte ist ein Mythos.

Im Jahr 1982 schrieb Gaëtan Dugas seinem ehemaligen Liebhaber, Ray Redford, einen Brief. Darin bekannt der kanadische Flugbegleiter, er leide wohl an einer Krankheit, die man zu dieser Zeit „gay cancer“ nannte. Heute weiß man: Er hatte nicht Krebs, sondern eine tödliche Infektionskrankheit, Aids.

Dugas ist in der medizinischen Fachliteratur zu fragwürdiger Prominenz gelangt. Er wurde in der Geschichtsschreibung der Aids-Epidemie jahrelang als „Patient Null“ bezeichnet. Er, so hieß es, sei der erste Überträger des HI-Virus auf dem amerikanischen Kontinent gewesen.

Öffentliche Dämonisierung

Dass Dugas einen promisken Lebensstil pflegte und hunderte Sexualpartner hatte, schien da gut ins Bild zu passen. Ein Bild, das Dugas bald zum Dämon werden ließ: Hauptverantwortlich dafür war das 1987 erschienene Buch And the Band Played On von Randy Shilts, in dem er zum initialen Sünder stilisiert wurde, als Gewissenloser, der den Erreger in der Schwulengemeinde absichtlich verbreitet habe - Dugas und seine Familie wurden in der Folge öffentlich diffamiert.

Wie nun im Editorial von „Nature“ nachzulesen ist, geht diese Darstellung auf ein fatales Missverständnis zurück. In 1982 geführten Interviews mit Wissenschaftlern, die die Ursprünge der Immunschwächekrankheit aufklären sollten, wurde der Frankokanadier noch als „Patient O“ - für „Outside of California“ - geführt. Eine Abkürzung, die sich im Gesprochenen auch als „O“ im Sinne von Null verstehen ließ. In And the Band Played On hatte sich die Beifügung bereits zur schriftlichen Null gewandelt.

Demo: Gay Pride parade in New York, 1983

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Gay Pride Parade in New York, 1983

HI-Virus kam 1970 nach Amerika

Wie Forscher um den Evolutionsbiologen Michael Worobey nun nachweisen, gibt es auch in genetischer Hinsicht keinerlei Anzeichen, dass Dugas am Anfang der Übertragungskette gestanden wäre. Ihren Analysen zufolge kam das HI-Virus bereits um das Jahr 1970 von Afrika über die Karibik nach Amerika - und zwar vermutlich auf mehrfachen Wegen. Dugas, sagt Worobey, „war bloß einer von vielen, die sich schon angesteckt hatten, bevor die Krankheit als solche erkannt wurde“.

So ist sein Schicksal denn auch ein Lehrstück darüber, wie die Öffentlichkeit mit Seuchen umgeht. „In der Geschichte von Krankheiten gab es immer wieder das Bedürfnis, einen Schuldigen zu finden“, betont Anthony Fauci, Direktor des National Institute for Allergy and Infectious Disease in Bethesda, Maryland.

Im Fall von Dugas gesellten sich zu diesem Bedürfnis wohl noch andere Motive, die im breiten Feld zwischen Angst und Vorurteil siedeln: Homophobie, bürgerliche Sexualmoral und Ohnmacht angesichts der um sich greifenden Seuche. Für Dugas kommt die öffentliche Rehabilitierung zu spät. Er starb 1984 an Aids.

Robert Czepel, science.ORF.at

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