Finanzmarkt: „Eine nervöse Kreatur“

Gierige Finanzhändler, die Profite ohne Rücksicht auf die Realwirtschaft einsacken: Das ist nur ein Teil der Wahrheit. Eine Studie zeigt, wie es den Tradern wirklich geht: Der Finanzmarkt ist für sie eine „nervöse Kreatur“, mit der sie sich körperlich identifizieren.

Hochgekrempelte Ärmel, Schweiß auf dem Hemd und auf der Stirn. Der Finanzmarkt verlangt den Finanzhändlern nicht nur intellektuell, sondern auch körperlich einiges ab. Ständig müssen sie das Steigen und Fallen ihrer Preiskurven beachten, auf die rot und grün leuchtenden Zahlen reagieren, die ihnen Gewinne und Verluste anzeigen, und die Basiswerte auf ihren Bildschirmen im Blick behalten.

Wie Finanzhändler aus dieser Informationsflut auf ihren Bildschirmen relevante Anhaltspunkte für Transaktionen zu finden und schnelle Entscheidungen treffen? Um das herauszufinden, verbrachte der Soziologe mehrere Wochen als Praktikant und Feldforscher in einem deutschen Finanzhandelsunternehmen.

„Dieser Markt wird zunächst einmal nicht als wohlwollend beschrieben, sondern der Markt ist ein äußerst flüchtiges und ganz schwer zu fassendes Gebilde, das rutscht, rauf oder runter zieht und sich immer wieder dreht“, meint Laube gegenüber science.ORF.at.

Zur Person

Stefan Laube ist Soziologe an der Goethe Universität in Frankfurt am Main. Das Buch „Nervöse Märkte: Materielle und leibliche Praktiken im virtuellen Finanzhandel“ entstand aus seiner Doktorarbeit an der Universität Konstanz und ist im De Gruyter Verlag Berlin erschienen.

Unberechenbarer Derivatehandel

Wenn der Soziologe von „Markt“ spricht, meint er speziell den Derivatemarkt. Derivatehändler kaufen keine Aktien oder Anleihen, sondern wetten auf deren Wert zu einem bestimmten Zeitpunkt. Auch auf Indizes, Zinsen oder Kursentwicklungen von Rohstoffen beispielsweise wird gewettet.

So profitieren Derivatehändler zum Beispiel vom steigenden oder fallenden Ölpreis - je nachdem, auf welchen Verlauf sie spekulieren. „Die Finanzhändler halten ihre Positionen höchstens für ein paar Stunden, oftmals auch nur für ein paar Minuten. Das heißt, sie sind an kurzen Preisverschiebungen interessiert, von denen sie profitieren möchten“, ergänzt der Soziologe.

Dafür müssen Finanzhändler die Preiskurven und Basiswerte, sprich die Aktien, Anleihen oder Zinsen den ganzen Tag im Blick behalten - konkret zwischen acht und zwölf Stunden. So lange dauert im Durchschnitt ein Arbeitstag eines Derivatehändlers. Auf die Toilette gehen sollte man währenddessen am besten gar nicht oder es zumindest auf einmal pro Tag reduzieren. Eine kurze Kaffeepause oder ein Verschnaufen an der frischen Luft wäre undenkbar.

Ö1 Sendungshinweis

Diesem Thema widmet sich auch ein Beitrag im Dimensionen Magazin am 18.11. um 19:05.

Unter diesen Umständen ist es wenig verwunderlich, dass den Derivatehändlern das Mittagessen an den Schreibtisch geliefert wird, das sie beiläufig mit Blick auf die neben- und übereinander gestapelten Bildschirme verzehren. „Finanzhändler lernen, ihre körperlichen Bedürfnisse dahingehend stark zu kontrollieren und zu disziplinieren. Der Körper muss im Tradingroom also zu einem großen Teil vergessen werden, damit er als Marktbeobachtungsinstrument funktionieren kann“, sagt Laube.

Ohren als akustisches Kurs-Barometer

Sollten die Augen einmal nicht auf die Preiskurven und Zahlen starren, bleiben zumindest die Ohren mit dem Marktgeschehen verbunden, wie der Soziologe beobachtet hat. Und die bekommen so einiges zu hören. Zum Beispiel, wenn der Deutsche Aktien Index DAX plötzlich fällt. „Da wird dann gebrüllt, „Der Dax“ und „Im Minus“. Sind die Bewegungen besonders intensiv, „fällt es wie sau“, „steigt es abartig“, oder „schlägt es aus“ - da wird der Markt dann zum Es.“

Laube nennt das Aufmerksamkeitsrufe. Sie werden nicht beliebig geäußert, sondern haben sich ritualisiert. Mittlerweile spielen sie bei der Beobachtung und Verarbeitung des temporeichen Finanzmarkts eine entscheidende Rolle. Durch solche Ausrufe wissen alle im Handelsraum, wie stark der Preis oder Basiswert in diesem Moment steigt oder fällt. Eine Art akustisches Barometer.

Außerdem sieht Laube in ihnen einen Ausdruck von Wachsamkeit, mit dem die Händler das Risiko falscher oder verpasster Entscheidungen kompensieren und teilen wollen. Das Beobachten des Marktes beschränkt sich aber nicht auf die Arbeitszeiten. Auch in ihrer Freizeit verfolgen die Derivatehändler Preise und Basiswerte am Smartphone. „Es ist unvorstellbar, dass er am nächsten Morgen ins Büro kommt an seinen Tradingdesk und sich dann erst informiert, wie denn der Markt steht. Das muss also mitlaufend immer gemacht werden“, so der Forscher.

Körperliche Schmerzen

Angst vor der unberechenbaren, verrückten Kreatur „Derivatemarkt“ haben Finanzhändler zwar nicht, dafür aber großen Respekt vor ihr. Und zwar nicht nur, weil sie ihnen plötzlich Verluste bescheren kann. Sondern weil sie ihnen damit auch körperliche Schmerzen zufügt. Beispielsweise dann, wenn die Händler mit einer Position „schief zum Markt liegen“, wie es im Fachjargon heißt, erklärt Laube. „Wenn Finanzhändler im Markt eine Position halten, dann identifizieren sie sich körperlich mit dieser Position und ich weiß nicht, wie oft ich Schreie im Handelsraum gehört habe bei einem Verlust: „Au, das tut weh“ oder „Mir ist schlecht“. Ausrufe wie diese zeigen, dass das zwar aufregend ist, im Markt zu spekulieren, dass es aber nicht ganz ungefährlich ist.“

Zwar sollte man sich nicht zu sehr an die Positionen klammern, erläutert Laube. Grundsätzlich sind solche Emotionen aber keinesfalls verpönt oder gelten als vernunfttrübend, im Gegenteil, sie sind erwünscht. „Ein Derivatehändler hat so einen Spruch angebracht: ‚Choleriker bei der Arbeit.‘ Das ist ziemlich kennzeichnend“, ergänzt Laube.

„Ich steige!“

Rechtlich gesehen investieren die Händler zwar nicht ihr eigenes Geld in die Positionen. Trotzdem betrachten sie die Derivate als Teil ihres Körpers, erläutert Laube. Dies äußert sich vor allem in ihrer Sprache, wenn sie nicht zwischen sich als Händler und der Position unterscheiden. „Wenn sie Gewinn machen mit einer Position, schreien sie: „Ich steige!“, wenn sie einen Verlust machen, brüllen sie: „Ich falle!““, sagt Laube.

Neben großen Emotionen spielt aber auch die feine Intuition eine wichtige Rolle. Was diese Intuition genau ausmacht und wie man sich das oft genannte „Gespür für den Markt“ aneignet, konnte aber niemand von den Studienteilnehmern beantworten. „Die Teilnehmer haben den Begriff der Intuition mir gegenüber sehr oft ins Spiel gebracht - vor allem wenn ich hinterfragt habe, wie sie Entscheidungen treffen. Dabei beteuerten viele, wie wichtig das Gefühl sei, zu ahnen ob dieser Kurs noch einmal rauf geht oder ob er sich dreht.“

Händler in einer Blase

Mit seiner Feldstudie zeigt Laube, dass hinter dem komplexen Derivatemarkt keine rein rational kalkulierenden Akteure oder gar ausschließlich Algorithmen agieren. Und er führt vor Augen, dass die Händler in einer Blase agieren, in der sie reale Auswirkungen des spekulativen Finanzmarktes, wie beispielsweise Finanzkrise und Nöte aufgrund steigender Lebensmittel oder Rohstoffpreise - einfach ausblenden.

Die Erkenntnisse legen nahe, dass die Entkoppelung der Finanzmärkte von der Realwirtschaft viel mit der Alltagspraxis der Händler zu tun hat. Man könne das nicht nur mit dem Streben nach Profit erklären, so Laube.

Ruth Hutsteiner, science.ORF.at

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