Paradoxe Folgen der EU-Forschungspolitik

Eigentlich will die Europäische Union grenzübergreifende Forschung fördern. Doch laut einer neuen Studie hatte die Osterweiterung eine paradoxe Wirkung. Viele osteuropäische Forscher gingen in den Westen, wodurch die EU-weite Zusammenarbeit im Osten gesunken ist.

Das zeigt eine neue Studie eines Forschungsteams rund um Alexander Petersen von der University of California.

Von Ost nach West

Das Problem des „Brain Drain“, also das Abwandern von gut ausgebildeten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, betrifft jene zwölf Staaten, die 2004 und 2007 im Zuge der Osterweiterung der EU beigetreten sind: Haben beispielsweise vor der Erweiterung polnische und deutsche Forschende im Bereich der Medizin zusammengearbeitet, waren die Institute gut vernetzt.

Seit dem EU-Beitritt Polens ist es aber für eine polnische Medizinerin leichter möglich, direkt in Berlin zu forschen. Auch die Berliner Forschungsgruppe freut sich über den Zuwachs an Expertise und erspart sich den Organisationsaufwand, den grenzübergreifende Forschung mit sich bringt. So wandern laut der Studie Forschende in die alten EU-Mitgliedsstaaten ab und nehmen ihre internationalen Kontakte mit.

Weniger internationale Veröffentlichungen

Für die Studie wurden Millionen wissenschaftlicher Veröffentlichungen aus den Jahren 1996 bis 2012 überprüft. Es zeigte sich, dass die Anzahl der internationalen Publikationen, an denen osteuropäische Universitäten beteiligt waren, nach der Osterweiterung um neun Prozent zurückgegangen ist.

Der gleiche Wert ist in den alten EU-Staaten dagegen um 36 Prozent angestiegen. Die Studie geht davon aus, dass es ohne die EU-Erweiterung auch einen Anstieg der osteuropäischen Beteiligung gegeben hätte. Dieser sei aber durch den Brain Drain verhindert worden. Durch die Mobilität innerhalb der EU konzentrieren sich die besten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an den führenden Universitäten – und die befinden sich vorwiegend im Westen.

“Logische Effekte“ in Technik und Naturwissenschaft

Dieses Phänomen ist für André Martinuzzi, Vorstand des Instituts für Nachhaltigkeitsmanagement der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien, nicht negativ. Im Gegenteil, meint er gegenüber science.ORF.at: „Eine Konzentration ist wichtig, damit der Europäische Forschungsraum im globalen Wettbewerb stark ist.“

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 13.4., 13:55 Uhr.

Martinuzzi analysiert Wirkungen der europäischen Forschungsförderung und stellte 2015 im Zuge der Evaluierung des 7. EU-Forschungsrahmenprogrammes fest, dass es vor allem Jungforscherinnen und –forscher aus Südeuropa in den Nordwesten des Europäischen Forschungsraums zieht. Großbritannien, Deutschland und Frankreich sind die beliebtesten Ziele.

„Wenn es an einem Standort Forschungsinfrastruktur gibt, die so teuer ist, dass es sie nur einmal in Europa gibt, dann ist es ganz selbstverständlich, dass sich dort die besten Köpfe ansiedeln. Gerade in den Naturwissenschaften und in der Technik, die stark von der Infrastruktur abhängen, ist es logisch, dass es dort zu Konzentrationseffekten kommt“, erklärt Martinuzzi.

Infrastruktur und Spezialisierung notwendig

Dass dadurch süd- und osteuropäische Forschungsstandorte geschwächt werden, sieht Martinuzzi nicht als ein forschungspolitisches Problem: „Forschungspolitik ist ausschließlich an Exzellenz zu orientieren und nicht an Struktureffekten. Europäische Strukturpolitik kann dazu genutzt werden, um negative Effekte auszugleichen und Länder, die strukturschwächer sind, an dieses europäische Niveau heranzuführen.“

Bei der Förderung von wirtschaftlich schwachen Regionen in Süd- und Osteuropa müsste sich die EU mehr auf Innovation konzentrieren: „Also weniger Autobahnen bauen und mehr in die Infrastruktur für Forschung investieren.“

Eine sogenannte „Brain Rotation“, bei der Wissen nicht nur in eine Richtung abwandert, sondern eben rotiert, könnte laut Martinuzzi durch eine Spezialisierung der einzelnen Forschungsregionen erreicht werden. Osteuropäische Standorte bräuchten neben der Infrastruktur auch Schwerpunktthemen, für die es noch keine ausgewiesenen Zentren gibt: „Dann gäbe es je nach Spezialisierung mehrere Exzellenzzentren über Europa verteilt.“

Unter diesen Umständen könnte sich dann auch die polnische Medizinerin, die nach Berlin gegangen ist, vorstellen, wieder in Polen zu forschen.

Katharina Gruber, Ö1-Wissenschaft

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