Das Geheimnis der Max-und-Moritz-Meldungen

Der V-Mann Klatt war der mysteriöseste Agent der deutschen Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges. Er geisterte nach 1945 als schillernde Figur durch die Spionageliteratur – dabei waren seine geheimen „Max-und-Moritz-Meldungen“ frei erfunden, wie der Historiker Winfried Meyer in einem Gastbeitrag schreibt.

Porträtfoto des Historikers Winfried Meyer

Winfried Meyer

Über den Autor:

Winfried Meyer ist Historiker und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: Klatt. Hitlers jüdischer Meisteragent gegen Stalin, Metropol-Verlag 2015. Derzeit ist Meyer IFK_Research Fellow.

Hinter dem Decknamen Klatt verbarg sich der Wiener Immobilienmakler Richard Kauder, der als Sohn eines 1905 mit seiner Familie zum Katholizismus konvertierten jüdischen Militärarztes nach den NS-Gesetzen ab 1938 als „Volljude“ galt. Im Frühjahr 1940 aus seinem Exilland Ungarn nach Wien abgeschoben, trat Kauder als V-Mann „Klatt“ in die Dienste der Abwehrstelle Wien, um sich und seine Mutter vor weiterer Verfolgung zu schützen.

Nachrichten aus Sofia und Nahem Osten

Aus Sofia funkte er seit dem Herbst 1941 als „Max“-Meldungen bezeichnete Nachrichten über Stationierungsorte und Bewegungen der sowjetischen Luftwaffe und Armee sowie über operative Planungen des sowjetischen Oberkommandos nach Wien, ab Anfang 1942 auch ähnliche Berichte aus dem britisch dominierten Nahen und Mittleren Osten sowie aus Nordafrika, die als „Moritz“-Meldungen bezeichnet wurden. All diese Nachrichten bezog Kauder von dem Exilrussen Longin Ira, der der Emigrantenorganisation des russischen Bürgerkriegsgenerals Anton Turkul angehörte und den Kauder im Budapester Stadtgefängnis kennen gelernt hatte.

Während die „Moritz“-Meldungen von den Auswertungsabteilungen der Generalstäbe von Heer und Luftwaffe eher skeptisch beurteilt wurden, waren der Stab „Walli I“, die von Major Hermann Baun kommandierte Leitstelle der Abwehr für die Frontaufklärung an der Ostfront, sowie die von Generaloberst Reinhard Gehlen geleitete Abteilung „Fremde Heere Ost“ hochgradig abhängig von den täglich eingehenden „Max“-Meldungen, die vom Generalstab des Heeres mehrfach als „kriegswichtig“ eingestuft wurden.

Max-Meldungen als Anlage zur Kurzen Feindbeurteilung der Abteilung Fremde Heere Ost, 11. November 1942 (Bundesarchiv, Freiburg i. Br.)

Bundesarchiv, Freiburg i. Br.

Max-Meldungen als Anlage zur Kurzen Feindbeurteilung der Abteilung Fremde Heere Ost, 11. November 1942 (Bundesarchiv, Freiburg i. Br.)

Von Budapest in die US-Gefangenschaft

Als Abwehr-Chef Canaris auf Weisung Hitlers im Juli 1943 die Entlassung aller als „Volljuden“ geltenden V-Leute der Abwehr anordnen musste, setzte der Wiener Abwehrstellenleiter Oberst Rudolf Graf von Marogna-Redwitz deshalb durch, dass Klatt vom Armeegeheimdienst des verbündeten Ungarn unter dem Decknamen „Karmany“ übernommen wurde und seine Nachrichten nun aus Budapest nach Wien lieferte.

Nach der Ablösung von Marogna-Redwitz als Leiter der Abwehrstelle Wien und der Integration des militärischen Nachrichtendienstes in das Reichssicherheitshauptamt im Sommer 1944 wurde Kauders Position aber immer schwieriger. Im Februar 1945 schließlich wurde er in Wien unter dem Vorwurf verhaftet, als Doppelagent für die Westalliierten gearbeitet zu haben. Beim Vormarsch der Roten Armee wurde er mit der Wiener Gestapoleitstelle nach Westen evakuiert und geriet Anfang Mai 1945 in der Nähe von Salzburg in amerikanische Kriegsgefangenschaft.

Richard Kauder (Klatt) und seine Verlobte Ibolya Kálmán, Sofia 1942 (Privatbesitz)

Privatbesitz

Richard Kauder (Klatt) und seine Verlobte Ibolya Kálmán, Sofia 1942 (Privatbesitz)

War er ein Doppelagent?

In Salzburg arbeitete Kauder schon kurz darauf als Großagent „Saber“ für die dortige Secret-Counter-Intelligence-Einheit des amerikanischen Geheimdienstes OSS, bis ihn Angehörige der sowjetischen Repatriierungskommission in Salzburg Ende Januar 1946 zu entführen versuchten. Da er als Agent nun „verbrannt“ war, internierten ihn die Amerikaner für mehr als ein Jahr im Vernehmungszentrum „Camp King“ in Oberursel bei Frankfurt.

Dort vernahmen ihn Experten des britischen Geheimdienstes, der die Funksprüche mit Klatts Meldungen schon während des Krieges mitgelesen und vergeblich die Herkunft seiner Informationen herauszufinden versucht hatte. Jetzt wollten die Briten Kauder nachweisen, dass es sich bei seinen Meldungen um vom sowjetischen Geheimdienst untergeschobenes Spiel- und Irreführungsmaterial gehandelt hatte, was professionelle Konkurrenten Kauders und Antisemiten wie Oberst Otto Wagner, der Leiter der „Kriegsorganisation Bulgarien“ der Abwehr, schon während des Krieges immer wieder behauptet hatten.

Veranstaltungshinweis

Am 22.5. hält Winfried Meyer einen Vortrag am IFK | Kunstuniversität Linz: “Klatt – Überlebenskunst in Holocaust und Geheimdienstkrieg“. Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien. Zeit: 18.15 Uhr

Aber auch durch langwierige Vernehmungen Longin Iras und Anton Turkuls in London konnte nicht mit Sicherheit festgestellt werden, dass Kauder und seine russischen Verbindungsleute als sowjetische Doppelagenten agiert hatten. Nach seiner Entlassung versuchte Kauder vergeblich, seine Geheimdienst-Karriere fortzusetzen, und scheiterte auch mit seinen geschäftlichen Aktivitäten. Hoch verschuldet, vereinsamt und entmündigt starb er 1960 in Salzburg und wurde in einem Armengrab beigesetzt.

Klatt-Mitarbeiter vor der Alexander-Newski-Kathedrale in Sofia, 1942 (Privatbesitz)

Privatbesitz

Klatt-Mitarbeiter vor der Alexander-Newski-Kathedrale in Sofia, 1942 (Privatbesitz)

Frei erfundene Informationen

Tatsächlich stammten die von „Klatt“ nach Wien gefunkten Informationen weder von einem Agentennetz der Exilorganisation General Turkuls in der Sowjetunion noch waren sie vom sowjetischen Geheimdienst geliefertes Spielmaterial zur Irreführung der Deutschen. Sie waren von ihrem Lieferanten Ira Longin frei erfunden worden - allerdings auf der Grundlage hervorragender Kenntnisse der Kriegsschauplätze und der sowjetischen Armee und des in Sofia möglichen Zugangs zur Presse sowohl der Sowjetunion als auch neutraler Staaten wie Schweden und der Schweiz.

Dass weder der deutsche Geheimdienst während des Krieges noch die alliierten Geheimdienste in der Nachkriegszeit die wahre Herkunft von Klatts Meldungen feststellen konnten, hatte vor allem zwei Gründe: Nicht nur für Klatt selbst, sondern auch für alle mit seinen Meldungen befassten Geheimdienstmitarbeiter und Militärs stellten sie ein informationelles Kapital dar, das auf jeder Stufe seiner Verwertung reichlich Dividende abwarf, die in symbolisches Kapital (z. B. in Form von Anerkennung und Beförderung) oder materielles Kapital (z. B. in Form von Dienstreisen oder Lebensmittellieferungen) Klatts umgewandelt werden konnte. Schon deswegen mochte niemand Zweifel an der Authentizität der Meldungen äußern.

Die britischen und amerikanischen Geheimdienstoffiziere wiederum mochten eher ihren im Nachrichtendienst etablierten deutschen oder sowjetischen Gegenübern jedes noch so abgefeimte Spiel zutrauen als sich einzugestehen, dass Außenseiter wie Klatt und Ira Angehörige der transnationalen Funktionselite, als deren Teil sie sich verstanden, hinters Licht geführt haben könnten. Für die anglo-amerikanischen Geheimdienste blieben deswegen die „Max“-Meldungen eines der „großen ungelösten Rätsel“ und ihr Lieferant „Klatt“ „einer der großen Geheimnisvollen des Krieges“.

Weitere Gastbeiträge des IFK: