Musikalische Entgrenzung: Die Mensch-Maschine

Während die klassische Musik ihren Status als Hochkultur einzubüßen droht, arbeiten Künstler und Philosophen an ihrer Erneuerung. Der Weg führt in ein avantgardistisches Zwischenland: zur Aufhebung von Genres - und Körpergrenzen.

6. Juni 2017, eine Podiumsdiskussion an der Kunstuniversität Graz. Thema: die Zukunft der klassischen Musik. Das Motiv, an dem sich das Gespräch entzündet, ist die Entgrenzung des ehemals abgeschotteten Genres.

Auf dem Podium sitzt Regula Rapp. Sie ist als Rektorin der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Stuttgart bestens mit dem Opernbetrieb vertraut. Die Opernhäuser, so Rapp, verlören zunehmend an Publikum. Die sogenannte Repräsentationskultur- verbunden mit ihrer elitären Verhaltens- und Kleidungskodierung - befinde sich mitten in einem Rückzugsgefecht.

Ähnlich sieht das Sven Helbig. Vor allem das jüngere Publikum fühle sich von der zeremoniellen Hochkultur nicht mehr angesprochen, sagt der Musiker, Komponist, Produzent, Regisseur und DJ.

Popkultur als „Barbarei“

Das habe, so lautet eine Diagnose der Gesprächsrunde, mit der Abtrennung von Kunst und Leben zu tun. Die Wurzeln dieser Entwicklung reichen ins 19. Jahrhundert - und beschäftigten etwa schon den amerikanischen Philosophen John Dewey (1859 - 1952). Der führende Vertreter des Pragmatismus wollte die Kontinuität zwischen ästhetischem Bewusstsein und alltäglicher Erfahrung wiederherstellen. In seiner Kunsttheorie bekämpfte Dewey den traditionellen Dualismus von Hochkultur und populärer Kultur. Dewey warf der Hochkultur vor, sie verkörpere den elitären Geschmack der Oberschicht - und degradiere die Massenkultur im Gegenzug zu einem „vulgären Vergnügen“.

Gegen dieses „vulgäre Vergnügen“ polemisierte Theodor W. Adorno. Für ihn war die Populärkultur die Ausgeburt der spätkapitalistischen Kulturindustrie. Die Populärkultur, so Adorno, stelle einen Verblendungszusammenhang her, der das Individuum völlig entmündige. Sie verdamme den Konsumenten zu einem reflexionslosen „Lurch“.

Die Jazz- oder Popmusik war für Adorno der Ausdruck einer musikalischen Barbarei, die zu einer Regression des Hörens führe. Er verband die Verbreitung der Populärkultur mit der Niederlage der Avantegarde, etwa der Zwölftonmusik von Arnold Schönberg und Anton Webern. „Alles Schönbergische ist heilig“, schrieb er in einem Brief an seinen Freund Siegfried Kracauer.

Anti-Adorno

Genau gegen dieses elitäre Verständnis von Musik wendet sich Sven Helbig. Er hat den Anspruch, in seinen musikalischen Produktionen die der unterschiedlichen Musikformen in Beziehung zueinander zu setzen - und zwar in ihrer Substanz, nicht in oberflächlichen Crossover-Arrangements.

Helbig: „Ich bin mit so viel verschiedener Musik groß geworden, klassischer Musik aller Zeiten, Neue Musik, Synthiepop, Hiphop, Jazz. Alle Stile einen die gleichen Ängste und Sehnsüchte. Für mich sind das alles verschiedene Blätter am gleichen Baum. Für andere Hörer wiederum sind es weit voneinander wurzelnde, einzelne Bäume.“

Helbig bezieht auch Tanz und Kostüme, Philosophie und Architektur in seine musikalischen Gesamtkunstwerke mit ein. Er arbeitet mit unterschiedlichen musikalischen Genres - mit klassischen Orchestern und Chören ebenso wie mit Rammstein und Snoop Dogg.

„I Eat the Sun and Drink the Rain“

Ein Beispiel dafür ist das Projekt „I Eat the Sun and Drink the Rain“ für Chor und Elektronik, in dem er Lieder im Stil der deutschen Romantik mit elektronischer Musik verbindet. Bei dem Werk fungiert Helbig als Komponist und als Autor. In seinen Texten geht es um menschliche Hoffnungen und Sehnsüchte - etwa im Lied „Abendglühen“:

Grenzüberschreitungen unternimmt Helbig auch in seinem Projekt „Popsongs“, in dem er einzelne Stücke von verschiedenen Gruppen wie Pet Shop Boys, Elliott Smith oder System Of A Down für das Fauré-Quartett neu arrangiert hat. (Im Vergleich: das Original „Chop Suey“ der Popgruppe System Of A Down und die Einspielung durch das Fauré Quartett.)

„Wenn die Erbinformationen Melodie und Harmonie stark genug sind, kann ich sie in ein anderes Biotop, das des Klavierquartetts, verpflanzen. So entsteht eine Metamorphose – ein neuer Organismus“, sagt Helbig. „Wenn das gelingt, muss niemand mehr nach der Quelle suchen. Bei einem Schmetterling fragt ja auch niemand nach der Raupe.“

Transhumane Ästhetik

Für eine noch radikalere Entgrenzung der klassischen Musik und auch der musikalischen Ästhetik plädiert der Philosoph Stefan Lorenz Sorgner. Er ist ein wichtiger Vertreter des sogenannten Transhumanismus. Diese philosophische Denkschule geht davon aus, dass die nächste Etappe des Evolutionsprozesses zu einer Verschmelzung von Technik mit menschlichen Wesen führen wird.

Sorgner empfiehlt die Anwendung von Gehirn-Computer-Schnittstellen in alltäglichen Lebensbereichen, Implantate zur Steigerung der kognitiven Fähigkeiten, Neural Engeneering zur allgemeinen Erweiterung menschlichen Bewusstseins und Cyborgisierung von Körpergeweben. Die Eingriffe sollen den menschlichen Organismus verbessern und erweitern. Das Ziel ist ein mit technischen Mitteln verbesserter Hybrid, ein - durchaus im Sinne Nietzsches - „Übermensch“. Laut Sorgner besteht so auch die Möglichkeit, das ästhetische Erleben zu intensivieren.

Wie der Mensch zur Maschine wird

Wie die Verkopplung von Mensch und Maschine das Erleben verändert, zeigen die Arbeiten des Medienkünstlers Dale Herigstad. Er hat eine Technik entwickelt, mit der man mittels Smartphone-App im dreidimensionalen Raum des TV-Geräts surfen, fernsehen und gleichzeitig das räumliche Verhältnis zwischen Bild und Informationen verändern kann. Auf diese Weise betritt der Benutzer den digitalen Raum: Die traditionelle dualistische Anordnung zwischen Wahrnehmendem und medial Wahrgenommenem verschwimmt, sie wird aufgehoben.

Der Künstler und transhumanistische Intellektuelle Jaime de Val betreibt ebenfalls die Auflösung des Dualismus in den Medien. In seinen medialen Performances installiert der Künstler an seinen Körper eine selbst entwickelte Apparatur, die aus einem Videobeamer, Lautsprechern, mehreren Kameras und einem Mikrophon besteht.

Damit bewegt er sich auf Straßen oder in Museen. Die Kameras sind aus verschiedenen Perspektiven auf seinen nackten Körper gerichtet; die Aufnahmen werden per Beamer auf verschiedene Wände projiziert; Die Aktion ist dokumentiert:

Das Cyborg-Enhancement, also die Optimierung eines Organismus durch die Verschaltung mit Maschinen, ziele ganz direkt auf unsere Sinnesfähigkeiten, sagt Stefan Lorenz Sorgner: „Die Verschmelzung von Mensch und Technik bedeutet nicht unbedingt ein Abstumpfen, eine Mechanisierung des Menschen.“

Sorgner hat eine Vision: „Möglicherweise lässt sich die ästhetische Sensibilität verbessern, vielleicht können wir eines Tages musikalische Strukturen viel besser wahrnehmen. Und vielleicht führt das auch zu neuen Kompositionsformen.“

Nikolaus Halmer, Ö1-Wissenschaft

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