Mehr Schilddrüsenkrebs unwahrscheinlich

Auch sechs Jahre nach Fukushima ist unklar, wie viele Strahlenopfer die Nuklearkatastrophe fordern wird. Was Schilddrüsenkrebs betrifft, liefert eine Studie nun vorsichtig Entwarnung. Auch ein neuer UNO-Bericht weist in diese Richtung.

Im März 2011 haben ein Erdbeben und ein Tsunami die atomare Katastrophe von Fukushima in Japan ausgelöst, die größte seit Tschernobyl. Das Beben forderte damals mehr als 18.000 Menschenleben. Zu wie vielen Opfern das Reaktorunglück und die ausgetretene radioaktive Strahlung letztlich führen werden, ist allerdings nach wie vor unklar. Eine neue Studie, an der auch der österreichische Strahlenphysiker Georg Steinhauser beteiligt ist, hat nun die Verbreitung kontaminierter Lebensmittel in Japan analysiert und liefert damit Hinweise auf die Strahlenbelastung der japanischen Bevölkerung.

Jede Menge Daten, aber keine Interpretation

Die Datenlage, auf die Georg Steinhauser und seine Kollegen von der Universität Hannover zurückgreifen konnten, war ausführlich. Denn die japanischen Behörden kontrollieren die Radioaktitvitätswerte von Lebensmitteln aus Fukushima und benachbarten Präfekturen seit Jahren lückenlos in einem Monitoringprogramm. Diese Daten sind öffentlich zugänglich. Allerdings gab es bisher keinerlei Interpretation der Messungen.

Steinhauser konnte anhand der Daten eine konservative Abschätzung der Strahlendosis machen, die eine japanische Familie im schlimmsten Fall in den Monaten nach der Reaktorkatastrophe aufgenommen hätte. Diese „Pechvogel-Familie“, bestehend aus Mutter, Vater, einem Kleinkind und einem Säugling, hat laut Modell über Monate hinweg immer zu den am stärksten kontaminierten Lebensmitteln im Supermarkt gegriffen - so lange das für die Schilddrüse gefährliche, radioaktive Iod 131 in der Luft und Umwelt vorhanden war.

Kritische Dosis nicht überschritten

„Unsere Berechnungen zeigen, dass in keinem Fall die für die Schilddrüse kritische Dosis von 50 Millisievert überschritten wurde“, so Steinhauser. Das sei auch die Dosis, ab der die Gabe von Iod-Tabletten empfohlen wird. Die Schilddrüse reichert sich dann mit dem verabreichten Iod an und lagert kein radioaktives Iod-131 ein.

Dass sich die Strahlenphysiker überhaupt mit den Lebensmitteldaten beschäftigt haben, liegt an den Erfahrungen in Folge des Supergaus von Tschernobyl. Seit damals ist klar, dass nicht nur die Luft bzw. das Einatmen von Iod-131 zu einer starken Belastung der Bevölkerung führen können, sondern eben auch Lebensmittel. „Nach Tschernobyl war es vor allem mit Iod kontaminierte Milch, die für die mehr als 7.000 Fälle von Schilddrüsenkrebs wesentlich verantwortlich war“, so Steinhauser.

Mehr Krebs durch Screening-Effekt?

Diese Ergebnisse stellen u.a. eine Studie in Frage, die bereits vier Jahre nach der Katastrophe von steigenden Schilddrüsenkrebsfällen bei japanischen Kindern berichtet hat. Laut Steinhauser können die Kinder die gefährlichen Iod 131-Dosen weder über Lebensmittel zu sich genommen noch aus der Luft eingeatmet haben. Denn die Japaner hatten nach Fukushima Glück im Unglück: Etwa 80 Prozent der radioaktiven Wolke wurden aufs Meer hinausgetragen.

Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf den Zeitpunkt der Untersuchung: Das Schilddrüsenscreening fand von 2011 bis 2014 statt. Das sei zu früh, um einen kausalen Zusammenhang zu Fukushima herstellen zu können. „Im Fall der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl wurde ein Anstieg der Schilddrüsenkrebsfälle erst vier bis fünf Jahre danach beobachtet“, so Steinhauser.

Die steigenden Krebsraten führt der Strahlenphysiker auf das Screening selbst zurück. Wenn man große Bevölkerungsgruppen gezielt nach einer Krankheit wie Schilddrüsenkrebs untersucht, findet man Knoten oder kleine, schlafende Tumoren, die man sonst nicht entdeckt hätte. „Das bedeutet natürlich, dass das Schilddrüsenmonitoring und die Untersuchung der betroffenen Personen weitergehen müssen“, so Steinhauser. Aber man mache es sich zu einfach, wenn man nach der Untersuchung hunderttausender Kinder 110 Krebsfälle findet.

Kritik von NGO, Zustimmung von UNO

Die Umweltorganisation Global 2000 sieht die Studienergebnisse aus Hannover kritisch. Die Umweltaktivisten prognostizierten 2012, dass mehr als 120.000 Kinder aufgrund der Fukushima-Katastrophen Schilddrüsenknoten bekommen würden und mit einem hohen Krebsrisiko leben müssten. Aus ihrer Sicht würden die Strahlenphysiker die Risiken durch Inhalation unterschätzen ebenso wie Niedrigdosiseffekte, heißt es in einer Stellungnahme.

Dem widersprechen die Studienautoren: Die Nuklearkatastrophe von Fukushima wird Krebsfälle verursachen, so Steinhauser. Da Krebs eine häufige Erkrankung ist, werden diese Fälle allerdings statistisch nur schwer nachweisbar sein. Diese Einschätzung deckt sich mit jener von UNSCEAR, dem wissenschaftliche Ausschuss der Vereinten Nationen, der sich mit den Auswirkungen atomarer Strahlung befasst. UNSCEAR hat am Freitag seinen neuesten Bericht zu Fukushima veröffentlicht. Einen Hinweis auf steigende Krebsraten konnten die UNO-Wissenschaftler auch hier noch nicht feststellen. Die Untersuchungen werden aber noch Jahre weiter laufen.

Marlene Nowotny, Ö1-Wissenschaft

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