Warum Gedichte schön sind

Ob ein Gedicht gefällt oder nicht, ist mehr als eine reine Geschmacksfrage. Lebendige und anschauliche Sprachbilder finden die meisten besonders ansprechend, so das Ergebnis einer Befragung.

Reime, Versmaß und Metaphern - bei keiner anderen Textsorte steht die sprachliche Form so im Mittelpunkt wie beim Gedicht. Vom dreizeiligen Haiku über das 14-zeilige Sonett bis zur ausführlichen Elegie - das formale Spektrum der verdichteten Sprachkunst ist breit. Die Schönheit von Lyrik liegt unter anderem in diesen strukturellen Aspekten.

Aber ob wir etwas als ästhetisch ansprechend empfinden, hängt natürlich auch vom subjektiven Erleben ab. Der individuelle Geschmack spiele eine wichtige Rolles, schreiben die Forscher um Amy Belfi von der New York University. Aber es gehe auch darum, welche Bilder ein Gedicht im Kopf des Lesers oder der Leserin erzeugt oder welche Emotionen es auslöst.

Die Studie

„Individual ratings of vividness predict aesthetic appeal in poetry“, Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts, 30.11.2017

Welche dieser Kriterien bei der ästhetischen Einschätzung maßgeblich sind bzw. „Warum uns gefällt, was uns gefällt“, haben die Forscher nun in einem Online-Experiment untersucht. Etwa 400 Probanden sollten entweder kurze Haikus - eine traditionelle japanische Gedichtform (Bsp.: „Den ganzen langen Tag/gesungen - aber der Lerche/war er nicht lang genug“) oder Sonette ästhetisch bewerten.

Bilder im Kopf erzeugen

Zusätzlich mussten zu jedem Gedicht vier Fragen auf einer Skala von Null bis 100 beantwortet werden: 1) Wie lebendig ist das Bild, das das Gedicht erzeugt? 2) Wie entspannend oder anregend ist das Gedicht? 3) Ist der Inhalt des Gedichts positiv oder negativ? 4) Wie ästhetisch ansprechend finden Sie das Gedicht?

Die Auswertung ergab: Wie gut den Probanden ein Gedicht gefiel, hing in erster Linie von der Bildlichkeit der Sprache ab. Je lebendiger und anschaulicher die verwendeten Sprachbilder waren, umso schöner fanden sie das Werk. Vermutlich können die Leser die Gedichte dadurch besser verstehen, schreiben die Autoren.

Außerdem helfe die Anschaulichkeit bei der flüssigen Verarbeitung des Texts und sie steigert die Aufmerksamkeit. Die Lebendigkeit erzeuge auch emotionale Reaktionen und den Bezug zu persönlichen Erinnerungen. Das erklärt auch individuelle Unterschiede, denn nicht alle Probanden reagierten in gleicher Weise auf die verwendeten Sprachbilder, fanden also andere Gedichte schön oder weniger gut gelungen.

Emotionaler Widerspruch

Nach der Bildlichkeit war die positive bzw. negative Bewertung der beste Indikator dafür, ob die Probanden ein Gedicht schön fanden. D.h., generell gefielen ihnen Texte mit positiver Grundstimmung besser, insbesondere galt das für die Haikus - die naturgemäß allein aufgrund ihrer Kürze diesbezüglich eindeutiger sind.

Bei der emotionalen Wirkung von Gedichten (Frage 2) fanden die Forscher keinen Zusammenhang zur ästhetischen Bewertung. Das ist insofern überraschend, als die Sprachbilder bei den Lesern ja Emotionen hervorrufen: Man könnte annehmen, dass sich diese auch in der subjektiven Wirkung niederschlagen sollten. Für diesen Widerspruch haben die Forscher vorerst keine Erklärung. Insgesamt, betonen sie, gebe es neben den untersuchten Variablen sicher noch andere Aspekte, die darüber entscheiden, ob wir ein Gedicht schön finden oder nicht.

Eva Obermüller, science.ORF.at

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