Begabte Erzähler haben mehr Kinder

Wo viele gute Geschichten erzählt werden, arbeiten Menschen besser zusammen. Das zeigt eine Studie an heutigen Jäger-und-Sammler-Gruppen. Überraschend: Begabte Erzähler pflanzen sich erfolgreicher fort.

Menschen lieben gute Geschichten: Während wir heute stundenlang mit den Serienhelden auf Netflix und Co. mitfiebern, lauschte man zu Urzeiten einem Erzähler am Lagerfeuer. Die Form mag sich verändert haben, aber vermutlich erzählten die Menschen einander schon Geschichten, lange bevor sie sesshaft wurden.

Aber warum tun sie das? Lewis Carroll hatte darauf eine einfache Antwort: „Die Abenteuergeschichten zuerst, bitte. Erklärungen brauchen immer so schrecklich lange!“, lässt er seine Protagonisten in „Alice im Wunderland“ sagen. Mit anderen Worten: Verpackt in einen spannenden Handlungsbogen, lassen sich Informationen viel besser weitergeben und verarbeiten.

Zusammenarbeit zählt

Tatsächlich könnte das ein Grund gewesen sein, warum sich die scheinbar nutzlose Fähigkeit des Erzählens schon so früh entwickelt hat und heute ein essenzieller Bestandteil des menschlichen Seins ist. Über Geschichten wurden Wissen und Erfahrungen von Generation zu Generation weitergegeben. Und auch sozial waren sie für die frühen Menschen enorm hilfreich, schreiben die Forscher um Daniel Smith vom University College in London in ihrer aktuellen Studie.

Ältere Frau und Kind der Aeta

Katie Major

Generationen helfen zusammen, philippinische Aeta

Einfache Jäger-und-Sammler-Gesellschaften waren auf Zusammenarbeit angewiesen. Nur als Gruppe konnten sie gut überleben. Damit das auch funktioniert, sollten alle möglichst ähnliche Ideen und Vorstellungen haben. Und am besten ließen sich soziale Regeln und Normen über Erzählungen vermitteln, so Smith. Tatsächlich handeln mündlich überlieferte Geschichten in heutigen - meist egalitären - Jäger-und-Sammler-Gesellschaften häufig von sozialem Verhalten, von Beziehungen und Konflikten, davon, wie Besitz geteilt wird, wie gemeinsam gejagt wird und von Tabus.

Gerechtigkeit und Freundschaft

Das sieht man auch an den Geschichten, die die Forscher in drei Nächten von älteren Erzählern der philippinischen Aeta gehört haben. Deren Vorfahren haben den Inselstaat vor 35.000 Jahren vermutlich als erste besiedelt. In einer Geschichte geht es etwa um einen Streit zwischen der männlichen Sonne und dem weiblichen Mond, wer denn den Himmel erleuchten darf. Nach einem Kampf, bei dem beide gleich stark waren, einigen sie sich darauf, die Aufgabe zu teilen: Die Sonne übernimmt den Tag und der Mond die Nacht. Die Themen: Geschlechtergerechtigkeit und die Kooperation zwischen den Geschlechtern.

Illustration zu "Die Sonne und der Mond"

Paulo Sayeg

Illustration zu „Die Sonne und der Mond“

In einer anderen Erzählung geht es ebenfalls um Zusammenarbeit und um die Freundschaft zwischen zwei ungleichen Tieren, einem Wildschwein und einer Seekuh. Die allermeisten von den Forschern aufgezeichneten Geschichten drehen sich um Themen wie Gleichheit, Freundschaft und soziale Akzeptanz. Sie betonen die Zusammenarbeit und verurteilen Konkurrenz. Knapp 90 Erzählungen aus sieben anderen Jäger-und-Sammler-Gruppen bestätigten diesen Befund: Die meisten handeln von sozial erwünschtem Verhalten.

Soziales Lernen

In einem nächsten Schritt befragten die Forscher fast 300 Personen aus 18 verschiedenen Camps nach den beliebtesten Geschichtenerzählern. Als Näherung für die erzählerischen Fähigkeiten im Lager wurde die durchschnittliche Anzahl an Nominierungen herangezogen. In einem anschließenden Experiment durften die Teilnehmer entscheiden, wie viel von einem bestimmten Gut sie behalten bzw. hergeben.

Die Probanden waren dabei umso freigiebiger, je mehr gute Erzähler in ihrer Gruppe lebten. D.h., dort, wo es viele gute Erzähler gibt, sind die Menschen kooperativer, schlussfolgern die Forscher. Nicht nur die transportierten sozialen Normen könnten dabei eine Rolle spielen. Geschichten vermitteln auch Erfahrungen abseits des eigenen Alltags. Sie fördern zudem das Mitgefühl, da man andere Sichtweisen kennenlernt.

Älterer Geschichten-Erzähler der Aeta

Daniel Smith

Einer der Geschichtenerzähler

Es könnte natürlich auch genau umgekehrt sein, nämlich dass in sehr kooperativen Gemeinschaft einfach mehr erzählt wird. Daher führte das Team eine weitere Befragung durch, bei der es um die Beliebtheit der Erzähler ging. Denn, so die Annahme der Forscher, das könnte Aufschluss über deren ursächliche Rolle liefern.

Es zeigte sich, dass begabte Geschichtenerzähler tatsächlich doppelt so häufig als Freunde bzw. soziale Partner nominiert wurden als weniger versierte. Sie waren damit so beliebt wie sehr nahe Verwandte oder Beziehungspartner. Die erzählerische Begabung war laut den Forschern auch wichtiger als alle anderen Fertigkeiten wie Jagen, Fischen, Wurzeln sammeln und medizinisches Wissen. Dass gute Erzähler beliebter sind als gute Jäger, unterstreiche ihre wichtige Funktion in der Gruppe. Offenbar profitieren wirklich alle von seinen Fähigkeiten.

Beliebte Erzähler

Was aber haben die Geschichtenerzähler selbst von ihrer Begabung? Immerhin braucht es neben der Begabung auch Zeit und Übung, um das Erzählen zu perfektionieren. Auch das haben die Forscher untersucht. Belohnt wird die Fähigkeit demnach unter anderem mit Fortpflanzungserfolg. Die guten Erzähler der Aeta hatten im Schnitt ein „halbes“ Kind mehr. Außerdem bekommen sie mehr soziale Unterstützung als normale Gruppenmitglieder. Zumindest im experimentellen Spiel wurden ihnen besonders große Anteile zugedacht.

Das liegt laut den Forschern sicher nicht nur daran, dass das Erzählen so wichtig für den Gemeinschaftssinn ist. Vermutlich genießen die Menschen es einfach, gute Geschichten zu hören.

Eva Obermüller, science.ORF.at

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