Komplexitätsforscher Stefan Thurner

Klimawandel, Migration, Verkehrsnetze: Mit komplexen Systemen wie diesen beschäftigt sich der Komplexitätsforscher Stefan Thurner. Für seine Fähigkeit, sie nicht kompliziert zu beschreiben und zu vermitteln, wurde er heute zum Wissenschaftler des Jahres gekürt.

Dies gab der Klub der Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten am Vormittag in Wien bekannt. Der Klub würdigt damit das Bemühen von Forschern oder Forscherinnen, ihre Arbeit und ihr Fach einer breiten Öffentlichkeit verständlich zu machen.

Ö1 Sendungshinweis

Stefan Thurner ist Gast im Ö1 Mittagsjournal, 8.1., 12:00 Uhr.

„Es ist wichtig, den Leuten, die unsere Wissenschaft bezahlen, zu erklären, was wir machen. Das ist ja nicht billig, in der Zwischenzeit gehen drei Prozent der Wirtschaftsleistung Österreichs in Wissenschaft und Forschung“, begründete Stefan Thurner sein Engagement in der Wissenschaftsvermittlung.

Netzwerkforscher Stefan Thurner inmitten eines Kletternetzes

APA/ROLAND SCHLAGER

Stefan Thurner in einer komplexen Kletterspinne

Vorhersagen treffen für Komplexes

Bei seiner Arbeit am Institut für die Wissenschaft Komplexer Systeme der MedUni Wien sowie dem von ihm initiierten und geleiteten „Complexity Science Hub Vienna“ sei es ihm auch wichtig zu vermitteln, „dass wir mit den vorhandenen Möglichkeiten etwas Vernünftiges machen“. Konkret nennt er etwa die Arbeit an großen Problemen wie Klimawandel, Migration, Ungleichheit, systemische Risiken, Ineffizienzen, Fairness in demokratischen Systemen, etc. „Hier wollen wir etwas verbessern“, so Thurner.

Gemeinsam ist all diesen großen Problemen, dass es sich dabei um sogenannte komplexe Systeme handelt, die man vielfach noch nicht versteht. Das Spannende an der Komplexitätsforschung sei, „dass man jetzt erstmalig die Möglichkeit hat, diese Systeme so zu verstehen, dass man Vorhersagen darüber machen kann, und wenn man das schafft, kann man sie vielleicht sogar früher oder später managen“.

Dynamische Netzwerke

Jedes komplexe System habe Netzwerke in sich, „und das Verständnis dieser Netzwerke ist die Quintessenz, um komplexe Systeme zu verstehen, wie sich diese dynamisch verhalten, auf Stress reagieren, Robustheit zeigen oder kollabieren“. Erst wenn man wisse, wie Bausteine miteinander in Beziehung stehen, könne man ein System verstehen, sagte Thurner, der beim APA-Interview ein solches Netzwerk mit seinen Knotenpunkten und Verbindungen dazwischen anhand einer Kletterspinne im Wiener Schönbornpark demonstrierte.

In den klassischen Naturwissenschaften habe man bisher immer nur mit wenigen Bausteinen umgehen können, weil man weder die Computerleistung noch die dahinter steckenden Daten gehabt habe. Mittlerweile gibt es beides und „sehr viele Datensätze kann man als Netzwerke darstellen. Sobald sie in dieser Form sind, kann man wissenschaftlich damit umgehen, kann man Mathematik verwenden, um diese Systeme zu beschreiben und Fortschritte zu machen“.

Netzwerkforscher Stefan Thurner inmitten eines Kletternetzes

APA/ROLAND SCHLAGER

Big Data zur Problemlösung

Auch wenn die großen Datenmengen („Big Data“) zu den Grundlagen der Komplexitätsforschung zählen, „wollen wir diese nicht verwenden, um etwa Leute zu überwachen oder die Privatsphäre aufzulösen“. Vielmehr sollen die Daten genutzt werden, „um Probleme, in die wir uns im 21. Jahrhundert gebracht haben, lösen zu können, konstruktiv und wissenschaftlich - damit wir nicht darauf angewiesen sind, nur aus dem Bauchgefühl zu handeln, wenn wir komplexe Systeme managen“, sagte Thurner.

Der Wissenschafter des Jahres wird alljährlich auch vom Office of Science and Technology (OST) an der österreichischen Botschaft in Washington zu einem Vortrag in die USA eingeladen. Als Trophäe gab es heuer erstmals eine Schneekugel aus der Original Wiener Schneekugelmanufaktur mit dem von der Ludwig Boltzmann Gesellschaft im 3D-Druck-Verfahren produzierten Klub-Logo, einer Eule.

Manipulation von Wahlen aufgedeckt

Auch mit politischen Wahlen befasst sich die Komplexitätsforschung - genauer: ob Wahlen manipuliert worden sind. Stefan Thurner und Kollegen haben unter anderem die Parlamentswahl in Russland 2011 analysiert - nicht wie Wahlbeobachter an Ort und Stelle, sondern mithilfe von Mathematik und Statistik Unregelmäßigkeiten nachgewiesen. Ebenso beim Verfassungsreferendum in der Türkei 2017.

Thurner, geboren in Innsbruck, hat Theoretische Physik studiert und sich dort habilitiert; zudem ist er Doktor der Finanzwirtschaft. Er forscht und lehrt an der Medizinuni Wien, sowie in Santa Fe in den USA und an der Technischen Uni Singapur.

science.ORF.at/APA

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