Kopfbeuteln gegen Knieschmerzen

Mit Augenübungen Nackenschmerzen „wegschauen“ oder Knieschmerzen durch Kopfbeuteln bekämpfen: Mit diesen Übungen beschäftigt sich die noch junge Disziplin der Neuroathletik - im Spitzensport bereits mit großem Erfolg.

Der menschliche Bewegungsapparat besteht aus Knochen und Knorpeln, Muskeln und Sehnen, Bändern und Bindegeweben. Die bisherigen Trainings- und Rehabilitationsmodelle stützen sich auf biomechanische Konzepte. Bisher kaum beachtet, dabei allerdings mindestens ebenso wichtig, sind neurologische Abläufe: also die die Muskeln versorgenden Nerven und das Rückenmark bis hin zum Gehirn, das alle unsere Bewegungen steuert.

Mit diesen Abläufen beschäftigt sich die Neuroathletik: Sie wurde - wie der Name schon verrät - als Trainingsmethode für den Spitzensport entwickelt. Und zwar um die Jahrtausendwende vom US-Humanbiologen, Trainer und Chiropraktiker Eric Cobb. Er erkannte, dass die körperliche Leistungsfähigkeit maßgeblich durch das Gehirn beeinflusst wird.

In Europa in Insiderkreisen bekannt wurde diese Trainingsform 2014. Der Sportwissenschaftler Lars Lienhard betreute mit dieser Methode die deutsche Fußballmannschaft, die dann in Brasilien auch Weltmeister wurde.

Schmerzen positiv beeinflussen

Bald stellte sich heraus, dass das Instrumentarium der Neuroathletik auch für die Rehabilitation und zur Schmerzbekämpfung geeignet ist. Neuroathletik wird wissenschaftlich erst erforscht - die Wirkmechanismen sind größtenteils nicht geklärt.

Für die Übungen werden drei Sinne benutzt: das visuelle System, die Körperwahrnehmung - auch propriozeptives System genannt - und der Gleichgewichtssinn. Die Bewegungen sind einfach auszuführen, sagte der Wiener Physiotherapeut Roman Pallesits. Je nach Person und Beschwerdebild könne ein und dieselbe Bewegung positive oder negative Wirkungen, also Schmerzen, verursachen. Deshalb wird am Beginn der Behandlung genau ausgetestet, was dem Körper guttut und was nicht.

Video mit Demonstrationen

Durch diese neuroathletischen Übungen können Schmerzzustände (fast aller Art) gelindert werden. Jeder Mensch reagiert darauf ganz individuell, sagte Pallesits. Nur wer alle drei im Video gezeigten Wahrnehmungstests ausprobiert, weiß, mit welcher Übung die Schmerzen am besten zu beeinflussen sind.

Suche nach biopositivem Reiz

Mit Augenübungen können Schmerz- und Fehlbewegungsmuster im Gehirn quasi überschrieben werden, so Pallesits. Daher funktioniert auch die Imagination mit der Uhr mit den zwölf Stundenpunkten, die er in dem Video beschreibt. Jene Stelle der Uhr, wo die Schmerzen nachlassen, wird zu einem biopositiven Reiz.

Das Gleichgewichtsorgan im Innenohr ermöglicht beim Sporteln - gemeinsam mit den Augen - präzise, rasche und stabile Bewegungen. Auch diesen Sinn kann man für die Rehabilitation und Schmerzreduktion nutzen. Die unterschiedlichen Übungen - Kopf in eine Richtung schleudern und langsam zurückbewegen - aktivieren jeweils eine Gleichgewichtswahrnehmung, die das Gehirn vom Schmerz ablenkt.

Diagonale Körperstrukturen

Der Physiotherapeut Pallesits setzt propriorezeptive Übungen zum Beispiel bei Schulterverletzungen ein. Viele Strukturen sind im Körper diagonal angelegt und arbeiten bestens zusammen. Man denke nur an das Zusammenspiel von Armen und Beinen beim Skilanglaufen oder beim Schwimmstil Kraulen. Daher, so eine der Annahmen der Neuroathletik, kann ein positiver Wahrnehmungsreiz an der rechten Hüfte durchaus schmerzlindernde Wirkung an der linken verletzten Schulter eines Patienten haben.

Buchhinweis

Ulla Schmid-Fetzer, Lars Lienhard: Neuroathletiktraining. Grundlagen und Praxis des neurozentrierten Trainings, Pflaum Verlag 2018.

Ein weiteres Verfahren, das propriozeptive System zu nutzen, ist das Flossing. Dabei umwickelt Pallesits zum Bespiel ein bewegungseingeschränktes und schmerzendes Knie ganz eng mit einem breiten Gummi- oder Thera-Band. Dadurch wird der Schmerz von einem anderen Reiz überdeckt und die Körperwahrnehmung verändert, und zwar weg vom Schmerz.

Theorien zur Wirkung

Schmerz ist keine absolute, physiologische Größe. Genau betrachtet ist er eine Bewertung des Gehirns, was das Signal vom Finger, in den man sich gerade geschnitten hat, wahrscheinlich bedeutet. Das ist eine der neuen und spannenden Arbeitshypothesen der Neuroathletik. Wenn positive Körperwahrnehmungen den Schmerz überlagern, verschwindet dieser. Hinzu kommt, dass das Nervensystem extrem rasch reagiert. Daher treten die Leistungsverbesserung oder eben Schmerzlinderung unmittelbar während der Übung ein.

Christoph Leprich, Ö1-Wissenschaft

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