Glücklich ohne Zeit und Zahlen

Vor 40 Jahren hat Daniel Everett den Stamm der Pirahã zum ersten Mal im Amazonasgebiet besucht. Damals war er noch Missionar. Doch dann legte er seinen Glauben ab, studierte die Sprache der Jäger und Sammler - und gewann bahnbrechende Erkenntnisse.

Sie kennen keine Zahlen, keine Nebensätze, sie sprechen weder von der Vergangenheit noch von der Zukunft. Für die Pirahã zählt das Hier und Jetzt, sie spekulieren nicht über mögliche Entwicklungen, stattdessen wollen sie Beweise. Eine Haltung, die den damaligen Missionar Daniel Everett in den späten 70er Jahren vor eine nicht zu lösende Aufgabe stellte. Denn er war in das Amazonasgebiet gereist, um die Sprache der Jäger- und Sammlergemeinschaft zu studieren und eine Bibelübersetzung anzufertigen. Er scheiterte.

Daniel Everett in Amazonien

Daniel Everett

Daniel Everett

„Wie sieht Jesus aus?“

„Sie haben mich gefragt, wie Jesus aussieht?“, erzählt Everett. Er antwortet, er habe ihn nie gesehen. Die Pirahã fragten, wer ihn gesehen habe? Everett sagte, niemand, den er kenne. „Daraufhin fragten sich mich verwundert, warum ich ihnen dann überhaupt von ihm erzählen wollte“, so der Sprachforscher weiter.

Everett, der heute Professor für Global Studies an der Bentley University in den USA ist, begann an seinem Glauben zu zweifeln. Die Pirahã waren glücklicher und psychisch gefestigter als die meisten Christen, die er kannte. Und sie waren wissensorientiert.

Diese Haltung spiegelt sich auch in ihrer Sprache wider. Ihre Verbstruktur verlangt nach einer Nachsilbe, die erklärt, ob man etwas beobachtet, es selbst herbeigeführt oder mitgehört hat.

Keine Zahlen, kein Rechnen

Der Missionar wurde zum Wissenschaftler und studierte Sprachwissenschaften in Brasilien. Seit damals hat Everett insgesamt acht Jahre lang bei und mit den Pirahã gelebt. Seine Analysen zeigen, dass der Stamm keine Zahlwörter verwendet. „Es gibt nicht einmal ein Wort für die Zahl eins“, erläutert Everett. Eine kleine Menge, eine etwas größere Menge und viel - so beschreiben die Pirahã Quantitäten.

Indigen: Kind eines Amazonas-Stammes

REUTERS/Adriano Machado

Die Pirahã kennen keine Zahlen - und leben gut damit

„Ich habe auch Kollegen des MIT und der Columbia University zu den Pirahã gebracht und sie haben bestätigt, dass es keine Zahlen und kein Rechnen gibt“, so der Sprachforscher. Und trotzdem hätten die Pirahã eine funktionierende Gesellschaft. Nachdem Besitz und Vorräte für die Jäger und Sammler keine Rolle spielen, werden die Zahlwörter nicht gebraucht.

Leben im Hier und Jetzt

Die Pirahã haben in ihrer Sprache auch keine Vergangenheits- oder Zukunftsform. Sie konzentrierten sich auf Dinge, für die unmittelbare Beweise vorliegen bzw. die im Moment relevant sind. „Sie wissen, was gestern war und dass es ein Morgen geben wird, aber sie stellen keine Prognosen an oder spekulieren“, so der Sprachforscher. Über die entfernte Vergangenheit oder Zukunft zu sprechen, sei für sie schlicht irrelevant.

Ö1-Sendungshinweis:

Über das Thema berichtet auch Wissen Aktuell am 6.3.2018.

So erklärt sich Everett auch, dass sie keine Geschichten aus der Vergangenheit erzählen und auch keinen Schöpfungsmythos haben. Sie kennen ihre Familie und ihre Generation. Generalisierungen passen nicht in diesen Konzept. „Alle“ oder „jeder“ gibt es demnach auch nicht, denn diese Begriffe würden ebenfalls der gelebten Unmittelbarkeit widersprechen. Eine Lebensweise, die glücklich macht. Zumindest haben Studien gezeigt, dass die Pirahã tatsächlich zufriedener sind, als Menschen in unserer Kultur. Laut Messungen lächeln und lachen sie wesentlich mehr.

Im Clinch mit Chomsky

Was in der Community der Sprachwissenschaftler für das größte Aufsehen gesorgt hat, war Everetts Erkenntnis, dass die Pirahã keine Nebensätze verwenden. Die sogenannte Rekursion kommt in ihrer Grammatik nicht vor. Laut Noam Chomsky, dem bekannten US-amerikanischen Linguisten, würde aber genau das die menschliche Sprache ausmachen, die Fähigkeit komplexe Sätze inklusive Nebensätze zu bilden. Chomsky spricht von einer Universalgrammatik.

Pirahã: Familie in einem Boot

Daniel Everett

Pirahã-Sprache: Gibt es doch keine Universalgrammatik?

Ein wissenschaftlicher Konflikt, der bis heute andauert. Bis jetzt haben Everett und Kollegen anderer Universitäten keine Rekursion bei den Pirahã gefunden. Eine Analyse von Wissenschaftlern des MIT kommt allerdings zu dem Schluss, dass die Rekursion dennoch existieren könnte. Diese grammatikalische Feinheit könnte auch in der Übersetzung verloren gehen.

Doch Everett ist davon überzeugt, dass die Sprache des brasilianischen Stammes anders funktioniert. Und sie seien nicht die einzigen: Auch in der Sprache der Indonesischen Ureinwohner der Provinz Riau habe man bis jetzt keine Nebensätze gefunden.

Sprache viel älter als gedacht?

Nach Ansicht von Everett ist die menschliche Sprache ein Werkzeug, um eine Gemeinschaft zu bilden. Die Gemeinsamkeit aller Sprachen seien Wörter für Dinge und Ereignisse, nicht eine universelle Grammatik. Nach Ansicht des Sprachforschers ist der moderne Mensch auch nicht das erste Lebewesen, dass Sprache entwickelt hat. Schon der Homo erectus habe sich sprachlich verständigt, ist Everett überzeugt.

Der Homo erectus konnte laut dieser These wesentlich weniger unterschiedliche Töne als der Homo sapiens produzieren, aber er konnte sich verständigen. Es gibt 750.000 Jahre alte Funde von Siedlungen bzw. von Meeresüberfahrten. Schon allein deswegen müsse dieser Vorfahre des Neandertalers gesprochen haben. „Um mit dem Boot überzusetzen, braucht es Anleitung und Kooperation“, erklärt Everett seine Theorie. Das sei nur mit Sprache möglich gewesen.

Die Kritik, auch Schimpansen und Krähen würden kooperieren und Werkzeuge herstellen, kann Everett nicht nachvollziehen. Denn die Werkzeuge des Homo erectus seien bereits wesentlich ausgereifter, einige Funde deuten sogar auf künstlerische Aktivitäten hin. Schimpansen seien hochintelligent, ihre Gehirne aber nur halb so groß wie jene dieser frühen hominen Art. Sie waren zu ihrer Lebenszeit die intelligentesten Kreaturen, die je gelebt haben, sagt Everett. „Nur wir, die danach kamen, sind intelligenter.“ Und fügt hinzu: „Vielleicht“.

Marlene Nowotny, Ö1-Wissenschaft

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