Das Exil der „neuen Frau“

Grete Stern war eine Pionierin der Fotografie. Als Jüdin musste sie 1933 aus Deutschland nach Argentinien fliehen. In beiden Ländern prägte sie das Bild der neuen, selbstbestimmten Frau, wie die Historikerin Christina Wieder in einem Gastbeitrag schreibt.

Im Jahr 1929 geschah in der Berliner Kunstwelt etwas Bemerkenswertes: Zwei junge Frauen, gerade mal Anfang zwanzig, eröffneten ein gemeinsames Foto- und Grafikstudio. Bemerkenswert war jedoch nicht allein die Tatsache, dass es weibliche Fotografinnen waren, denn solche gab es in den 1920er- und 1930er-Jahren viele – es sei an Lucia Moholy, Ilse Bing oder Marianne Brandt erinnert.

Porträtfoto der Historikerin Christina Wieder

IFK

Über die Autorin

Christina Wieder ist Doktorandin am Schwerpunkt Visuelle Zeit- und Kulturgeschichte am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Derzeit ist sie Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK Wien).

Das Außergewöhnliche dieses Fotostudios war vielmehr, dass diese beiden Künstlerinnen eine gemeinsame Form des Sehens, des Gestaltens und des Fotografierens entwickelten, eine solch intensive Art der Zusammenarbeit pflegten, dass sie später nicht mal mehr wussten, wessen Finger die Kamera bediente und wessen Hand abgelichtet wurde.

Ringl+Pit – angelehnt an die Kosenamen, die sie als Kinder trugen - hieß dieses neue Fotostudio, das im Jahr 1929 von Grete Stern und Ellen Auerbach gegründet wurde.

Neues Sehen und „neue Frau“

Im Unterricht bei Walter Peterhans, dem späteren Leiter der Fotografiewerkstatt des Dessauer Bauhaus‘, hatten sich die beiden Frauen kennengelernt. „We didn’t have any books, but he made us see the things – er lehrte uns das Sehen“, so beschrieb Grete Stern später das Studium bei Peterhans in Berlin.

Mit aufmerksamen Blick und einer Kamera ausgestattet, studierten Stern und Auerbach fortan ihr Umfeld, fingen es in ihren Bildern ein und provozierten dadurch neue Perspektiven auf die Welt, in der sie sich bewegten.

Im Zentrum dieses künstlerischen Austauschs stand das Bild der „neuen Frau“, die modern, freiheitsliebend, sexuell selbstbestimmt und in fast sämtlichen Massenmedien der Zeit zu finden war. So fortschrittlich dieses Frauenbild wirken mochte, Ringl+Pit’s analytisch geschultem Auge war dies noch lange nicht genug. Sie nutzten deshalb die Fotografie, um Darstellungen der „neuen Frau“ zu hinterfragen und sie von äußeren Konventionen zu befreien.

Kulturmetropole Buenos Aires

Im Jahr 1933 zerbrach die Zusammenarbeit der beiden Frauen. Demokratische Strukturen wurden zerstört und der wachsende Antisemitismus zwang unzählige Menschen zur Flucht. Auch Stern und Auerbach, beide jüdischer Herkunft, mussten Berlin verlassen. Auerbach gelang die Flucht nach Tel Aviv, Grete Stern dagegen exilierte erst nach London und nur wenig später nach Buenos Aires. Einmal ins Exil gedrängt, waren sie in Deutschland schon weitgehend in Vergessenheit geraten.

Stern-Illustration eines Traums

Idilio

Illustration eines Traums, der in der Zeitschrift „Idilio“ psychoanalytisch gedeutet wurde

Buenos Aires hatte sich spätestens seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zu einer aufstrebenden und modernen Kulturmetropole entwickelt, wo zahlreiche Kunstschaffende aus der ganzen Welt zusammenfanden. So dynamisch der künstlerische Austausch in der argentinischen Hauptstadt war – nicht zuletzt aufgrund der vielen verschiedenen Migrations- und Exilerfahrungen, die in Buenos Aires zusammenfanden – so kontrovers waren hingegen die politischen Entwicklungen im Land.

Besonders die Präsidentschaftswahl von Juan Domingo Perón entfachte tiefgreifende ideologische Debatten, die folglich auch Einfluss auf die Kunstproduktion hatten. Denn mit der Etablierung peronistischer Politiken kam es zur intensiven Nutzung der Fotografie und des Films als Mittel der politischen Propaganda.

Die „neue Frau“ im „neuen Argentinien“

Ein wichtiges Teilziel der peronistischen Bildpropaganda war die Entwicklung eines „neuen“ Frauenbildes – v. a. deshalb, da im Jahr 1947 das Frauenwahlrecht eingeführt wurde. Während Frauen damit neue Möglichkeiten zur politischen Mitbestimmung erlangten, wurde im Widerspruch dazu von denselben staatlichen Organen ein Wunschbild gezeichnet, das Häuslichkeit, Fürsorge und v.a. Mutterschaft als naturgegebene weibliche Aufgabenbereiche in den Vordergrund rückte.

Grete Stern, die sich schon vor dem Exil kritisch mit solchen konservativen Frauenbildern befasste, versuchte folglich durch visuelle Interventionen und v.a. durch eine populärkulturelle Präsenz ihrer widerständigen Haltung Ausdruck zu verleihen. Erstaunlich ist jedoch, dass diese visuellen Interventionen Sterns von künstlerischen Gruppierungen erst Jahre später in ihrem politischen und ästhetischen Wert wiederentdeckt wurden.

Subversive visuelle Strategien

Fast vier Jahre, von 1948 bis 1951, arbeitete Stern für ein populäres Frauenmagazin namens „Idilio“ (übersetzt Idylle oder Romanze). „Jugendlich und Feminin“ verstand sich die Zeitschrift und unterhielt neben Sektionen zu den neuesten Modetrends, Fotonovelas und Liebesratgebern eine eigene psychoanalytische Kolumne. „El psicoanálisis te ayudará“ (Psychoanalyse wird dir helfen) hieß der fixe Bestandteil jeder Ausgabe, in dem Dr. Richard Rest alias Gino Germani und Enrique Butelman Träume von Leserinnen analysierte. Ergänzend dazu gestaltete Grete Stern durch Techniken der Fotomontage die Visualisierungen der Träume – ihr analytischer Blick war dabei erneut von zentraler Bedeutung.

Illustration eines Traums, der in der Zeitschrift "Idilio" psychoanalytisch gedeutet wurde

Idilio

Illustration eines Traums in der Zeitschrift „Idilio“

Stern nütze diese Arbeit für „Idilio“ v.a., um den Diskurs zu Weiblichkeitsvorstellungen, ähnlich wie sie es schon in Deutschland tat, auch in Argentinien mitbestimmen zu können. Durch subversive visuelle Strategien versuchte sie, nicht nur das von der Zeitschrift propagierte, traditionelle Frauenbild zu ironisieren, sondern damit einhergehend auch jenes des Peronismus zu dekonstruieren.

Veranstaltungshinweis

Am 12.3. hält Christina Wieder den Vortrag: „Grete Sterns fotografische Demontagen der peronistischen Bildpropaganda“. Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften | Kunstuni Linz, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien. Zeit: 18.15 Uhr

Die Themen der peronistischen Bildpropaganda (Ehe, Mutterschaft oder Häuslichkeit) waren in Sterns Traum-Visualisierungen durchaus präsent, doch schuf sie durch parodierende und verfremdende Darstellungen dieser einen inhaltlichen Bedeutungswandel, der Frauen zur Selbstbestimmung anleiten sollte.

Un/Sichtbarkeiten im Exil

Betrachtet man heute Grete Sterns Fotomontagen für „Idilio“, so kann deren innovativer und interventionalistischer Charakter kaum mehr weggeleugnet werden. Auch damals scheint Sterns politische Motivation unübersehbar gewesen zu sein. Doch die Flüchtigkeit und Undefinierbarkeit des populärkulturellen Produktionsverfahrens bzw. der Zeitschrift erlaubten es Stern, sehr explizit Kritik am peronistischen Frauenbild zu üben und dennoch den staatlichen Kontrollorganen zu entgehen.

Die für „Idilio“ entwickelten Fotomontagen wurden später von Stern unter dem Namen „Träume“ in zahlreichen Museen ausgestellt. Sie sind mitunter der Grund, weshalb Grete Stern heute als eine der ersten, explizit feministischen Fotografinnen Argentiniens gehandelt wird. In der deutschen Fotografiegeschichte ist sie jedoch bis dato weitgehend unsichtbar.

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