258 Jahre bis zum Gender-Gleichstand

Viele Männer, wenige Frauen - das Verhältnis in den Natur- und Technikwissenschaften ändert sich nur langsam. Bis zum Gleichstand dauert es noch Hunderte Jahre, so eine aktuelle Studie. Im Einzelfall „entweiblichen“ Frauen sogar ihre Vornamen.

Zehn Millionen Publikationen auf PubMed und arXiv, erschienen seit 2002 in den 20 wichtigsten wissenschaftlichen Zeitschriften, waren die Basis für die Analyse, die der Biologe Luke Holman gemeinsam mit der Evolutionsforscherin Devi Stuart-Fox und der Mathematikerin Cindy Hauser durchgeführt hat. Publikationen aus 115 Fächern und mehr als 100 Ländern wurden erfasst, wobei sich die Forscherinnen und der Forscher der Universität Melbourne auf jene Fächer konzentrierten, die man im Englischen mit dem Kürzel STEMM beschreibt: Science, Technology, Engineering, Mathematics and Medicine.

Österreich im untersten Drittel

Die wichtigsten Ergebnisse: In 87 der 115 Fächer waren deutlich weniger als 45 Prozent der Autoren Frauen, fünf hatten mehr als 55 Prozent Schreiberinnen, in den restlichen 23 war die Autorenschaft annähernd ausgeglichen. Mit einem hohen Frauenanteil aufgefallen sind vor allem gesundheitsbezogene Fächer wie Geburtshilfe und palliative Pflege. Den größten „Gender Gap“ in der Publikationsbilanz weist die Physik aus, bleibt die Entwicklung so langsam wie bisher, wird es noch 258 Jahre dauern, bis der Gleichstand erreicht ist. Nicht verglichen wurde der Anteil der publizierenden Frauen mit jenem der tatsächlich im Gebiet arbeitenden Forscherinnen.

Der Frauenanteil in den Natur- und Technikwissenschaften sowie in der Medizin steigt auf niedrigem Niveau.

Luke Holman, Universität Melbourne, Australien

2018 im untersten Drittel und auch 2045 noch kein Gleichstand: Publizierende Frauen und Männer in Österreich.

Im Ländervergleich zeigt sich bei Österreich eine - von niedrigem Niveau startende - kontinuierliche Aufwärtsbewegung, allerdings wird es auch 2045 hierzulande noch deutlich mehr publizierende Männer als Frauen geben (siehe Grafik ). Relativ zu den anderen 99 Ländern gesehen wird Österreich seine Position kaum verbessern.

Ansehen als Ausschlusskriterium

Als zusätzlicher Filter wirkt offenbar das Renommee der wissenschaftlichen Zeitschrift - je höher, desto weniger Frauen. In der traditionell sehr renommierten Zeitschrit „Nature“ ist rund ein Drittel der Autoren weiblich, bis 2030 wird der Anteil auf 38,2 Prozent wachsen (siehe Grafik).

In "Nature" publizieren deutlich weniger Frauen als Männer.

Luke Holman, Universität Melbourne, Australien

In „Nature“ schreiben zwei Drittel Männer, bis 2030 sind es noch immer mehr als 60 Prozent.

Das ebenfalls prestigeträchtige „Science“ hält aktuell bei 29,5 Prozent Autorinnen, bis 2030 werden es hochgerechnet 33,1 Prozent sein. Zum Vergleich: In der noch relativ jungen Open-Access-Zeitschrift „PLOS One“ sind es aktuell 41,7 Prozent Frauen, ihr Anteil wird bis 2030 auf 46,1 Prozent wachsen.

„Ille“ statt „Ilse“

Dass bei der Bewertung von Studien offenbar eine „Genderbrille“ aufgesetzt wird, das hat auch Ille Gebeshuber, Professorin für Physik an der Technischen Universität Wien, erlebt: „Als ich in der Physik anfangen habe, habe ich meinen Vornamen von Ilse auf Ille umgeändert. Denn damals - in der Zeit vor der Bildsuche über das Internet - bin ich draufgekommen: Wenn ich nicht offensichtlich mache, dass ich eine Frau bin, werde ich in der Physik automatisch als Mann gesehen - und meine Publikationen gehen durch wie nichts. Wenn Ilse drauf gestanden ist, hatte ich größere Schwierigkeiten.“

Die Physikerin Ille Gebeshuber von der Technischen Universität Wien

Elke Ziegler, science.ORF.at

Physikerin Ille Gebeshuber

Eine persönliche Geschichte mit Potenzial für die Wissenschaft, so die Physikerin mit Spezialgebiet Nanotechnologie im Interview mit Ö1: „Man könnte mehr Doppelt-blind-Reviews machen. Die Gutachter einer Publikation kennen dann den Namen des Autors bzw. der Autorin nicht.“

Eindimensionale Kennzahl

„Publikationen verbreiten nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse. Sie sind auch die Maßzahl für Produktivität und entscheiden über die Karriere“, begründet Devi Stuart-Fox in einer Aussendung die Motivation für ihre aktuelle Studie. Ille Gebeshuber von der TU Wien hält die Publikationskennzahl für überschätzt. Derzeit entscheide in manchen Fächern die zweite Kommastelle, ob jemand eine Stelle bekommt oder nicht. Aber immer mehr Universitäten bemerken, dass Faktoren wie gute Lehre ebenso wichtig sind.

Insofern ist Gebeshuber zuversichtlich, dass es in der Physik ebenso wie in anderen Fächern nicht so weitergehen gehen wird wie in den letzten 15 Jahren. Ein einfaches Fortschreiben der Entwicklung, wie es die australische Studie tut, hält sie deshalb für irreführend. „Es können charismatische Frauen auftreten, die starke Rollenmodelle sind. Es können Aspekte in der Physik auftauchen, die das Fach für Frauen interessanter machen“, so die Physikerin. Und vielleicht müsse man auch akzeptieren, dass naturwissenschaftlich-technische Fächer manche Frauen einfach nicht interessieren. „50/50 ist in der Physik möglicherweise wirklich nicht erreichbar. Aber besser als heute geht es auf jeden Fall.“

Elke Ziegler, Ö1-Wissenschaft

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