1.000 NS-Verfahren, 20 Schuldsprüche

Seit 1955 sind mehr als 1.000 Verfahren gegen NS-Täter eingestellt worden. Schuldsprüche gab es in nur 20 Fällen, Freisprüche in 23. Das ist das Fazit eines Forschungsprojekts am Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW).

Was die juristische Verfolgung von NS-Tätern und NS-Täterinnen betrifft, stellt der aktuelle Jahresreport des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem Österreich ein beschämendes Zeugnis aus. Seit mehreren Jahrzehnten wurde hier kein NS-Verbrecher und keine NS-Verbrecherin mehr verurteilt, heißt es darin. Wohl ein Grund, warum dessen Leiter, Efraim Zuroff, Österreich einst als „Paradies für NS-Täter“ bezeichnet hat.

Das mehrjährige Forschungsprojekt der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz am DÖW, finanziert vom Zukunftsfonds der Republik Österreich, dem US-Holocaust-Museum und der israelischen Holocaust-Gedenk- und Forschungsstätte Yad Vashem, untermauert diesen Befund nun mit Zahlen.

Fälle bis 2008 untersucht

Seit 1955 wurden mehr als 1.000 Verfahren wegen NS-Verbrechen eingestellt. Schuldsprüche gegen NS-Täter gab es in nur 20 Fällen, Freisprüche in 23. „Ermittelt wurde aufgrund verschiedener Delikte, darunter Tötungsdelikte, Körperverletzung, Amtsmissbrauch und Sprengstoffvergehen“, sagt der Politologe Siegfried Sanwald vom DÖW. Er hat die Akten diverser Gerichte durchforstet, die mittlerweile in den Landesarchiven lagern.

Ö1-Sendungshinweis

Über das Thema berichtete auch das Ö1-Journal, 4.5., 12.00 Uhr.

Für die Forscher waren – aus rechtlichen Gründen - die Fälle bis ins Jahr 2008 zugänglich. Projektleiter Winfried Garscha, Historiker am DÖW, ergänzt: „Der Output an Verurteilungen ist wirklich beschämend niedrig. Es gibt einige Probleme in den 1960er Jahren, die mit der allgemeinen Verfasstheit der österreichischen Gesellschaft zu tun hatten. Österreichische Geschworene waren nicht bereit, Schuldsprüche wegen NS-Verbrechen zu fällen.“

Der letzte Schuldspruch datiert vom April 1972. Damals wurde Franz Novak als Angehöriger des Reichssicherheitshauptamtes bzw. des „Sondereinsatzkommandos Eichmann“ wegen Mitwirkung an Massenmorden im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau zu sieben Jahren Haft verurteilt.

„Mangelnder politischer Wille“

Für die hohe Zahl an eingestellten Verfahren gibt es verschiedene Gründe: beispielsweise den Tod des Angeklagten oder Schwierigkeiten bei der zweifelsfreien Identifizierung von Beschuldigten zwanzig, dreißig oder noch mehr Jahre nach der Tat.

Garscha nennt noch einen weiteren Grund: „Die Polizei hat wirklich recherchiert und ermittelt, die Staatsanwälte haben Verfahren vorbereitet, aber letztendlich hat es dann oft nicht gereicht. Denn dazu gehört auch der politische Wille.“ Im Klartext: Die Staatsanwaltschaft bekam für die komplexen Ermittlungen nicht genug Personal und Budget zur Verfügung gestellt. Die Folge: „Überlastung“, sagt Sanwald: „Um das zu verdeutlichen: Der Grazer Staatsanwalt untersuchte den Komplex Lublin-Majdanek und gleichzeitig ein riesengroßes Verfahren gegen Hunderte Beschuldigte wegen Verbrechen im besetzen Polen.“

„Österreich braucht andere Rechtspraxis“

Anders als Österreich hat Deutschland zuletzt seine Rechtspraxis korrigiert. 2011 und 2016 wurden mit John Demjanjuk und Oskar Gröning erstmals SS-Wachmänner wegen Beihilfe zum Mord verurteilt, obwohl sie nicht selbst gemordet hatten. Im Justizjargon heißt das: Im Fall von NS-Verbrechen bedarf es in Deutschland keines Einzeltatnachweises mehr.

„Das hat die Strafverfolgung bzw. Verurteilung von NS-Verbrechern erleichtert“, so Zuroff vom Simon-Wiesenthal-Zentrum in Jerusalem. Er sieht Österreich am Zug und fordert, es Deutschland gleichzutun: „Dann würde es uns leichter fallen, zu glauben, dass hier die Nazi-Vergangenheit abgelehnt wird.“

Die beiden Forscher Sanwald und Garscha vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes geben dem grundsätzlich recht, weisen aber auf ein weiteres Problem hin: Die wenigen Täter, die heute noch am Leben sind bzw. sein könnten, dürften zum Zeitpunkt der NS-Verbrechen noch nicht volljährig gewesen sein - was eine Anklage verunmöglicht. In Deutschland prüft bzw. untersucht die Staatsanwaltschaft derzeit mehrere Fälle von NS-Verbrechen. In weiteren vier ist, soweit öffentlich bekannt, Anklage erhoben worden.

Tanja Malle, Ö1-Wissenschaft

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