Die Utopie zwischen zwei Fronten

Das „Rote Wien“ gilt sozialpolitisch für viele bis heute als Vorbild. Ehe es 1934 unterging, kämpfte die Sozialdemokratie an zwei Fronten: gegen den Austrofaschismus, der schließlich zur Errichtung des Ständestaates führte, und gegen die NSDAP, deren Anziehungskraft die Sozialisten lange unterschätzten.

Im März 1932 trifft sich die Wiener Sozialdemokratie zu einer Konferenz – die Landtags- und Gemeinderatswahlen stehen kurz bevor. Dort stellt Robert Danneberg, der damalige Präsident des Wiener Landtags, seine Prognose für das Wahlergebnis vor: 67 Mandate für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP), 25 Mandate für die Christlichsoziale Partei und acht Mandate für die Nachfolgeparteien des „Schober-Blocks“.

Eine Rechnung, die nur zum Teil aufgehen sollte. Während die Sozialdemokraten einige Wochen später 66 Mandate erringen können, stürzen die Christlichsozialen ab und eine andere Partei erscheint auf der Bildfläche: Die NSDAP wird mit über 200.000 Stimmen zur drittstärksten Partei und damit zum „Sieger“ dieser Wahl.

„Die NSDAP wurde von allen unterschätzt“

Veranstaltungshinweis

Die Tagung Red Vienna fand am 14. und 15. April am IFK (Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften,Kunstuniversität Linz) in Wien statt.

„Bis zu den Wahlen 1932 stellte die NSDAP überhaupt keine politische Größe in Österreich dar und wurde von ihren politischen Gegnern dementsprechend auch unterschätzt“, sagt die Historikerin Christiane Rothländer von der Universität Wien. Der Wahlkampf hatte im Frühjahr ruhig begonnen. Doch je näher die Wahlen rückten, desto radikaler wurden die Rhetorik und Aktionsformen der Nationalsozialisten. Am Donnerstag vor der Wahl eskalierte die Situation schließlich.

In Liesing, das damals noch zu Niederösterreich gehörte, geriet eine Gruppe von Nationalsozialisten in eine Auseinandersetzung mit Sozialdemokraten. Dabei tötete der 21-jährige Medizinstudent Heinrich Korb, ein Angehöriger der Wiener SS, den 23-jährigen Schutzbündler Karl Schafhauser, ein zweiter Sozialdemokrat wurde schwer verletzt.

Nach Wahlerfolg beginnt der Abwehrkampf

Trotz des starken Zulaufs zur NSDAP nahm die Wiener Sozialdemokratie die Nationalsozialisten auch nach der Wahl zunächst nicht als gefährlichen Gegner wahr. „Man dachte, dass diese Wähler, wie es in der Arbeiter-Zeitung hieß, eine Art ‚Zwischenstation‘ durchmachen, um sich danach der Sozialdemokratie anzuschließen“, erläutert Christiane Rothländer. Doch das änderte sich bereits nach kurzer Zeit, wie etwa auch die Feiern zum 1. Mai zeigten. Auch wegen zahlreicher gewalttätiger Auseinandersetzungen mit Anhängern der NSDAP nahmen die Sozialdemokraten den Abwehrkampf aktiv auf.

Wie angespannt die Situation zwischen den beiden Parteien war, zeigte auch die Situation im Wiener Gemeinderat und Landtag. Dort kam es sogar zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen den Abgeordneten. Die NSDAP blockierte zahlreiche Entscheidungen und stellte aus agitatorischen Zwecken unsinnige Forderungen - etwa eine Finanzspritze von zwei Millionen Schilling für die Arbeitslosenunterstützung. Eine Summe, die die Stadt Wien nicht aufbringen konnte. „Und diese Ablehnung nützte die NSDAP dann wiederum für ihre Propaganda“, sagt die Historikerin.

Drei Pfeile gegen das Hakenkreuz

Zur Person

Christiane Rothländer ist Lektorin am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte und am Institut für Geschichte der Universität Wien. Derzeit arbeitet sie gemeinsam mit einer Gruppe von HistorikerInnen an der Neugestaltung der Länderausstellung im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau.

Um die vor allem junge Wählerschaft der NSDAP zurückzugewinnen, konzentrierte sich die Werbearbeit der Sozialdemokraten vor allem auf diese Generation. Viele von ihnen waren wegen der Weltwirtschaftskrise arbeitslos – sie hatten ihre Arbeit verloren oder konnten wegen der schlechten Lage auf dem Arbeitsmarkt nicht einmal in das Berufsleben einsteigen. Der große Erfolg der NSDAP in Deutschland sei gerade für diese Menschen ein Grund gewesen, sich der Partei auch in Österreich anzuschließen, betont Christiane Rothländer.

Die Sozialdemokraten richteten in der Folge eine eigene „Propagandastelle“ ein. Dem Hakenkreuz wurde im August 1932 ein eigenes Kampfabzeichen entgegengesetzt: Die drei Pfeile, die den Kampf der Arbeiterbewegung gegen Faschismus, Klerikalismus und Kapitalismus sowie gegen die Reaktion im Allgemeinen symbolisieren. Mit den Abzeichen, die massenhaft verteilt wurden, wollte die Sozialdemokratie in der Öffentlichkeit verstärkt Präsenz zeigen.

Einmarsch der Fahnen

„Man hat hier teilweise auch Organisationsformen der NSDAP übernommen. Nach diesem Vorbild hat die Sozialdemokratie Referentinnen und Referenten eingeführt, die in die Bezirke gefahren sind, um dort Überzeugungsarbeit zu leisten“, erläutert Rothländer. Auch bei der Gestaltung der Versammlungen galten neue Vorgaben: Etwa der Fahneneinmarsch und die Uniformierung wurden verstärkt institutionalisiert. Die Parteimitglieder sollten im blauen Hemd erscheinen und sich so auch äußerlich zur Sozialdemokratie bekennen.

Viele der Kampfmaßnahmen, die die Sozialdemokraten 1932 etablierten, richteten sich an die jungen Parteimitglieder So wollte man dem Gautag der NSDAP Ende September einen wirksamen öffentlichen Protest entgegensetzen und den „Kampf um Wien“ verhindern. Doch während der viertägigen Veranstaltung kam es zu zahlreichen gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die Polizei dokumentierte mindestens 42 Zusammenstöße und zahlreiche Verhaftungen. „Die Spirale der Gewalt drehte sich immer weiter“, sagt Christiane Rothländer.

Insel der Demokratie

In der Folge verhängt die erste Regierung unter Engelbert Dollfuß, eine Koalition aus Christlichsozialen, Landblock und Heimatbund, ein Aufmarsch- und Versammlungsverbot. Das richtet sich jedoch ausschließlich an Sozialdemokraten, KPÖ und NSDAP. Für die Heimwehr, die paramilitärische „Selbstschutzorganisation“ des Heimatblocks, galt dieses Verbot nicht. Für die Sozialdemokraten eröffnet sich endgültig eine zweite Front: Dollfuß und die Heimwehr standen auf der einen Seite, die NSDAP auf der anderen.

„Die Sozialdemokratie wird zwischen diesen antidemokratischen Kräften und einer Regierung, die zunehmend autoritär agiert, aufgerieben“, erläutert Christiane Rothländer. Der Konflikt mündete in die Februarkämpfe 1934 und den Austrofaschismus. Dem utopischen Projekt des „Roten Wien“ wurde damit ein gewaltsames Ende gesetzt. „Die Hoffnung Otto Bauers, die er am Parteitag der Sozialdemokraten im November 1932 geäußert hatte – Österreich könne eine Insel demokratischer Freiheit bleiben – war damit endgültig unmöglich geworden."

Marlene Nowotny, Ö1 Wissenschaft

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