„Geschichtsbuch der Steinzeit aufgeschlagen“

Vor rund 45.000 Jahren besiedelten die modernen Menschen Europa. Die Begegnung mit Neandertalern dürfte ihnen aber nicht gutgetan haben. Denn laut einer neuen Studie gibt es im Erbgut heutiger Europäer keine direkte Spur mehr von den allerersten Siedlern.

Bei rund 37.000 Jahre alten Vorfahren ist das hingegen sehr wohl der Fall. Das zeigt eine bisher einzigartige Untersuchung von Genomen, die von Fossilien 51 moderner Menschen in ganz Europa – von Russland bis Spanien - stammen. Das älteste von ihnen ist 45.000 Jahre, das jüngste 7.000 Jahre alt.

Das genetische Geschichtsbuch der Steinzeit ist somit aufgeschlagen, sagt Johannes Krause vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena gegenüber science.ORF.at. „Das ist aber erst ein erster Entwurf. Wir kennen jetzt die Kapitel des Buchs, müssen den Text aber noch schreiben.“

Neandertaler-Anteil nimmt stetig ab

Dass die modernen Menschen vor rund 45.000 Jahren nach Europa kamen und dort auf die Neandertaler trafen, gilt heute als Konsens. Die Spuren dieses Aufeinandertreffens sind bis heute in unserem Erbgut zu sehen - so besagte vor Kurzem eine Studie, dass Teile unseres Immunsystems mit Neandertaler-Genen in Verbindung stehen.

Wie die aktuelle Arbeit zeigt, tragen die in Rumänien entdeckten, rund 40.000 Jahre alten Oase-Menschen noch zehn Prozent Neandertaler-Erbgut, so Johannes Krause. Im Lauf der Jahrtausende nimmt der Anteil aber immer weiter ab, sodass heutige Europäer nur noch zwei Prozent mit ihnen gemein haben.

Drei ca. 31.000 Jahre alte Schädel aus Dolni Věstonice im heutigen Tschechien.

Martin Frouz and Jiří Svoboda

Drei circa 31.000 Jahre alte Schädel aus Dolni Vestonice im heutigen Tschechien

Da es keine Hinweise für die Vermischung mit Menschengruppen ohne Neandertaler-DNA gibt, machen die Forscher die natürliche Selektion für den Rückgang verantwortlich. „Es scheint, dass viele genetische Varianten, die in den Neandertalern vorkamen, für den prähistorischen modernen Menschen nachteilig waren“, sagt der Studienhauptautor Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie.

Das Kremser Wachtberg-Baby ist ein Bub

Das könnte auch der Grund sein, warum die Forscher keine Überbleibsel von modernen Menschen, die vor 45.000 bis 37.000 Jahren lebten, bei heutigen Europäern gefunden haben. Sie sind genetisch verschwunden – möglicherweise wegen ihrer geringeren Fitness.

Ab den 37.000 Jahre alten Funden ändert sich das: Alle untersuchten menschlichen Überreste aus dieser Zeit und danach sind zumindest teilweise Vorfahren von heutigen Europäern. Dazu zählen auch die spektakulären Funde auf dem Kremser Wachtberg. 2006 hatten Forscher dort zuerst eine Doppelbestattung zweier Neugeborener freigelegt und später ein weiteres, mehr als 30.000 Jahre altes Babygrab.

Im Rahmen der aktuellen Studie wurde nun die DNA des Babys untersucht und sein Geschlecht bestimmt. „Wir wissen jetzt, dass es ein Bub war, das hätte man anhand der morphologischen Merkmale nie erkennen können“, sagte die Anthropologin und Studienmitautorin Maria Teschler-Nicola vom Naturhistorischen Museum Wien gegenüber der APA. Der Neandertaler-Anteil Erbgut des Babys betrage 3,9 Prozent.

Der steinzeitliche Fund von Krems-Wachtberg

NHM, Kurt Kracher

Männliches Säuglingsskelett vom Kremser Wachtberg

Brachten Natufier die Landwirtschaft?

Nach der letzten großen Eiszeit vor rund 20.000 Jahren, als der halbe Kontinent vergletschert war, erfolgte eine Wiederbesiedlung Europas – und zwar aus dem Südwesten, vermutlich von der iberischen Halbinsel aus, sagt Johannes Krause. Deren Vertreter seien der Magdalenien-Kultur zuzurechnen. „Spanien war vermutlich eine Art Refugium während der Eiszeit.“

Von der Einwanderungswelle danach habe man bisher nichts gewusst, sagt Krause, „das ist der größte Befund der neuen Studie“. Vor rund 14.000 Jahren – viel früher als bisher gedacht - kam es demnach zu einer massiven Einwanderung aus Südosteuropa oder dem Nahen Osten, die das Erbgut im gesamten Kontinent prägte. Oder – und diese Variante ist weniger wahrscheinlich - eine Menschengruppe verbreitete sich zu dieser Zeit etwa aus der Türkei ausgehend sowohl in Europa als auch im Nahen Osten.

„Interessant ist: Zu dieser Zeit ist im Nahen Osten die Kultur der Natufier entstanden“, sagt Krause. „Das war die erste Kultur, die einen relativ ortstreuen Lebensstil pflegt. Sie haben permanente Rundhäuser, betreiben zwar noch keine Landwirtschaft, sammeln aber wildes Getreide und backen vermutlich schon Brot.“

Möglicherweise breitete sich diese Kultur auch nach Europa aus und brachte erste rudimentäre Formen der Landwirtschaft mit sich – ob das stimmt, müssten DNA-Vergleiche mit Natufiern zeigen, meint Krause. „Das wird sich dank der fortgeschrittenen Techniken aber in ein paar Jahren beantworten lassen.“

Venus weit verbreitet

Auch ein kunstgeschichtliches Rätsel wurde mit den DNA-Analysen geklärt. Die Venus von Willendorf (NÖ) und eine in Kostenki (Russland) gefundene Figur sehen einander extrem ähnlich, und so dachten die Wissenschaftler bisher, dass sie von einer Population hergestellt wurden, die eben die 5.000 Kilometer Entfernung irgendwie zurückgelegt hat.

Doch genetisch waren die Menschen in den beiden Regionen damals völlig anders. „Es ist damals offensichtlich Kulturtransfer passiert, in diesem Fall sind also nicht die Menschen von hier nach dort gewandert, sondern ihr Wissen“, erklärt Maria Teschler-Nicola.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at

Mehr zu dem Thema: