Zwischen Dokument und Agitation

Fotos haben den Anspruch, besonders „echt“ zu sein; erst recht, wenn sie mit Begleittexten zur Fotoreportage werden. Warum sich diese auch für Propaganda eignen und von Avantgarde-Künstlern eingesetzt wurden, zeigt die Slawistin Anja Burghardt in einem Gastbeitrag.

Porträtfoto der Slawistin Anja Burghardt

IFK

Zur Autorin

Anja Burghardt ist Akademische Rätin im Bereich Slavische Literaturwissenschaft am Institut für Slavische Philologie der LMU München. Forschungsschwerpunkte sind russische und polnische Lyrik, Fotografie bzw. Fotoreportage und das Zusammenspiel von Gattung und Stimme in der polnischen Literatur des 19. Jahrhunderts.

Fotoreportagen zeichnen sich durch ein Zusammenspiel von Bild und Text aus: Die Bilder haben zumindest Bildunterschriften, sie stehen unter Schlagzeilen und sind eingebettet in Artikel und – so in den 1920er und 1930er Jahren, in denen die Fotoreportage ihre erste Blüte erlebte – in die Doppelseiten der Illustrierten. Ob der Text oder das Bild dominiert, variiert genauso wie die Länge eines Beitrags, der als „Fotoreportage“ eingeordnet werden kann.

So fraglich es ist, die Fotoreportage als eigene Gattung zu betrachten angesichts dessen, dass die Grenzen zu Pressefotografie einerseits, Fotoessay oder gar Fotobuch andererseits fließend sind, so sehr scheint diese enge Verzahnung von einem längeren Text mit einer Sequenz von Bildern doch eigene Darstellungsweisen hervorzurufen.

In jedem Fall wird etwas erzählt, und zwar etwas, von dem zumindest suggeriert wird, dass es „so gewesen ist“. Diese Bildgeschichten sind also Wirklichkeitsgeschichten oder geben sich zumindest als solche aus.

Das Zusammenspiel von Text und Bild

Einer der bekanntesten Vertreter der Avantgarde und namhafter Autor von Fotoreportagen war der russische Künstler Alexander Michailowitsch Rodtschenko. Seine Fotografie von Notizblock und Leica ist dabei insofern charakteristisch, als Fotoreporter immer wieder von den unterschiedlichen Möglichkeiten schreiben, die Sprache und Foto für ihre Darstellungen der Wirklichkeit bieten.

Rodtschenkos Fotografie von Notizblock und Leica

VG-Bild-Kunst, Bonn 2016

Rodtschenkos Notizblock und Leica

Ernst Haas (1921–1986), US-Amerikanischer Photograph aus Österreich und frühes Mitglied der Fotoagentur Magnum, beispielsweise beschrieb sein eigenes Vorgehen bei einer Fotoreportage über Frauen, die 1949 am Westbahnhof in Wien unter den Heimkehrern aus der russischen Kriegsgefangenschaft auf ihre Angehörigen hofften, in dieser Hinsicht folgendermaßen:

„Tausende Frauen mit vergrämten Gesichtern erwarteten ihre Männer. Niemand wußte, wer ankommen würde. Spannung und Stille lag über dem Platz, bis die ersten Gefangenen wie aus einer Kulisse auf die Bühne heraustraten. Die nächsten Szenen konnten nur noch mit einer Kamera beschrieben werden. […] Szenen von Glück und Enttäuschung lösten einander schnell ab, man konnte kaum nachkommen.“

Ähnlich bemerkte der russische Schriftsteller Sergej Tret’jakov bereits 1927 über seine Arbeit in China, dass die Anblicke des Unbekannten ihn die schnelle und präzise Aufzeichnung durch die Kamera schätzen lehrten, so dass sie nun neben dem Notizblock sein ständiger Begleiter sei. Zugleich werfen solche „Werkstattberichte“ die Frage auf, ob das Verhältnis von Text und Bild nicht komplexer ist. Denn auch die Abfolge der Bilder, die Anordnung einer Bildstrecke, ihre Größe und Montage in einer Illustrierten haben ihre eigenen „Erzählweisen“.

Die Illustrierte als Ort der Fotoreportage

Die Fotoreportage wäre nicht denkbar gewesen ohne verschiedene technische und institutionelle Voraussetzungen. Von fotografischer Seite ist das vor allem die Erfindung und Verbreitung der Kleinbildkamera ab Ende der 1920er Jahre. Sie machte solch sperrige Kameras wie die von Frances Benjamin Johnston (1864–1952), einer der ersten Fotografinnen und Fotojournalistinnen, obsolet.

Frances Benjamin Johnston: mit ihrer Stativ-Kamera

Library of Congress

Frances Benjamin Johnston mit Kamera und Stativ

Erst die Handlichkeit der Kleinbildkameras erlaubte eine Beweglichkeit, die Schnappschüsse ermöglichte wie auch Experimente mit ungewöhnlichen Blickwinkeln, die im Neuen Sehen der Avantgardefotografie ihre prägnantesten Manifestationen erfuhren.

Die Illustrierten waren das wichtigste Medium der Fotoreportagen, und ihrer Nachfrage an Bildmaterial, das sich von Texten zu den unterschiedlichsten Themen begleiten ließ, verdankten wiederum nicht wenige Fotografen ihren Lebensunterhalt. Thematisch entstanden so neben Auslandsberichten vor allem auch Erzählungen von alltäglichen Begebenheiten im eigenen Land.

Ein internationales Medium mit nationaler Tradition?

Mit der Bindung an dieses Massenmedium, aber auch mit der Dopplung von sprachlichem Text und Bildtext war die Fotoreportage gleichermaßen international und geprägt von Bildtraditionen und Erzählweisen, die in den jeweiligen Ländern und Sprachen gegeben waren.

Während in den Fotozeitschriften der Zwischenkriegszeit Stile und Ausdrucksmöglichkeiten der Fotografie diskutiert und theoretisch wie technisch reflektiert werden, zeichnet sich in den Illustrierten ein ganzes Spektrum an Darstellungsweisen und Funktionen der Fotoreportage ab: Sie kann – verhältnismäßig neutrales – Medium des Berichts sein, ganz auf die Dokumentation von Geschehnissen ausgerichtet, aber auch Propagandamittel; in Fotoreportagen stehen der romantisierenden Darstellung von Städten und Landschaften, wie sie den Piktorialismus auszeichnet, Fotomontagen und avantgardistische Experimente zur Seite.

Was immer der Text hier sagt, erhält – je nach Fotografie – eine andere Wirkung. Das ist in Osteuropa nicht anders als in Österreich, der Weimarer Republik oder den USA – nur eben mit verschiedenen Akzentuierungen.

Die Fotoreporterin Toni Frissell im März 1945 mit Kindern

Library of Congress

Die spätere High-Fashion-Fotografin Toni Frissell als Teil der US Army im März 1945 in Europa

Diesen Unterschieden ebenso wie der Intermedialität der Fotoreportage geht die Tagung „Bildgeschichten. Von den Anfängen der Fotoreportage“ (19.–20. Mai 2016, IFK Wien) nach. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Osteuropa; über die einzelnen Vorträge werden russische, tschechische, jugoslawische und polnische Fotoreportagen auch mit solchen aus den USA, der Weimarer Republik und Österreich kontrastiv in Bezug gesetzt. Die Tagung wird von der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung unterstützt.

Anja Burghardt, IFK

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