Britische Wissenschaftler gegen „Brexit“

Die britische Wissenschaft ist klar gegen „Brexit“: Laut einer Umfrage des Wissenschaftsmagazins „Nature“ wollen 83 Prozent in der EU bleiben - die enormen Summen, die die EU in die britische Forschung pumpt, sind dabei nur ein Argument.

„Ein Desaster für die britische Wissenschaft“ - so eindeutig haben sich 150 renommierte britische Forscherinnen und Forscher in einem offenen Brief zu einem möglichen „Brexit“ geäußert, darunter auch der weltberühmte Astrophysiker Stephen Hawking. Dem kann der Biostatistiker Lorenz Wernisch nur zustimmen: "Ja, das ist natürlich völlig richtig. Kurzfristig bedeutet ein „Brexit" Unsicherheit und langfristig einfach weniger Möglichkeiten, weniger Förderung. Das sind die Aussichten, also katastrophal in jeder Hinsicht.“

Ein Drittel „EU-Ausländer“

Der gebürtige Österreicher Lorenz Wernisch arbeitet seit 20 Jahren in Großbritannien und leitet heute an der Universität Cambridge eine Arbeitsgruppe in der Genomforschung: „Gerade boomende Bereiche wie eben die Genomforschung haben sich sehr stark an der EU orientiert, sowohl finanziell als auch vom Personal her. Forschung kann hier nur in großen Gruppen und mit viel Geld funktionieren.“

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Über dieses Thema berichtet heute auch das Mittagsjournal, 17.6.2016, 12.00 Uhr.

Ein Drittel der Studierenden und Lehrenden stammt in Cambridge aus anderen EU-Ländern, ein Drittel aus Großbritannien und ein Drittel kommt aus dem Rest der Welt. Diesen internationalen Austausch brauche Wissenschaft, um Spitzenleistungen erbringen zu können, so Biostatistiker Wernisch. Auch in seiner Arbeitsgruppe gebe es zwei Doktoratsstudierende aus dem sogenannten EU-Ausland, und sie beschäftigen ganz konkrete Fragen: „EU-Studenten zahlen derzeit die gleichen Beiträge wie ihre britischen Kolleginnen und Kollegen. Laut EU-Regeln darf es ja hier keinen Unterschied geben. Was passiert, wenn Großbritannien die Union verlässt - ich habe keine Idee. Wenn dann die europäischen Studenten, die wir hier in Cambridge in großer Zahl haben, die hohen ‚international fees‘ zahlen müssten, wäre das schon sehr schwierig.“

Eine Milliarde weniger

Und auch über der Zukunft der großen Austauschprogramme wie etwa Erasmus steht derzeit ein Fragezeichen - ebenso wie über den Förderprogrammen der EU. Eine Milliarde Euro jährlich könnte in Forschung und Entwicklung an Universitäten und in Unternehmen wegfallen, so Schätzungen.

„Wenn ich heute ein junger Forscher oder eine junge Forscherin in Großbritannien bin und weiß, dass ich große Fördermittel akquirieren muss, um Karriere zu machen, dann würde ich mir schon überlegen, ins EU-Ausland zu gehen, wo ich besseren Zugang zu diesem Geld habe“, beschreibt Barbara Prainsack, Politologie-Professorin mit österreichischen Wurzeln am King’s College in London.

Stimmen für den Austritt

Dennoch gibt es auch in der Wissenschaft Stimmen für einen Austritt, wenngleich ihr Anteil mit zwölf Prozent (fünf Prozent sind unentschieden) in der „Nature“-Umfrage relativ gering ist. Ihre Argumente lassen sich mit diesen Schlagwörtern zusammenfassen: „Vorbild Schweiz“ und „Geld“.

Zur Schweiz heißt es immer wieder, dass sie als Nicht-EU-Mitglied an EU-Programmen teilnehmen kann. Die Schweiz sei durchaus ein interessantes Beispiel, so Politologin Barbara Prainsack, aber möglicherweise nicht, um einen EU-Austritt zu argumentieren: „Nachdem die Schweiz nach dem Referendum zur Limitierung der Migration aus dem EU-Ausland ihre Teilnahme an den EU-Forschungsprogrammen nachverhandeln musste, steht sie heute viel schlechter da als vorher.“

Und auch ein Blick in die Statistik zeigt: 2015 wurden magere sieben Prozent der EU-Forschungsmittel an alle Nicht-Mitgliedsstaaten gemeinsam vergeben - zum Vergleich: Großbritannien hat bei den großen Förderprogrammen rund 20 Prozent des Geldes holen können.

Schlagwort „Geld“

Immer wieder argumentieren Befürworter eines „Brexit“, dass sich Großbritannien dann die EU-Mitgliedsbeiträge sparen würde, ein Teil davon könnte in Wissenschaft und Forschung fließen. „Viele Leute, mit denen ich spreche, sehen die EU-Forschungsförderung als eine Finanzspritze, die nach einem ‚Brexit‘ wegfallen und nicht durch innerstaatliche Förderung kompensiert würde“, sagt Barbara Prainsack.

Nachdem bei einem Austritt auch mit einem deutlichen Rückgang der Wirtschaftsleistung gerechnet wird, wird das ersparte Geld wohl anderswo investiert, so die Befürchtung.

Elke Ziegler, science.ORF.at

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