„Welt der Kinder“ im 19. Jahrhundert

Geschichte, Sachkunde, Geografie - was in Schulbüchern steht, prägt später unsere Weltsicht. Wie Schulbücher die Weltsicht von Kindern der k.u.k.-Monarchie im 19. Jahrhundert beeinflusst haben, untersuchen Forscher nun erstmals mit riesigen Datenmengen.

Längst hat die Digitalisierung auch die Geisteswissenschaften erreicht. Dadurch ist es Gerhard Lauer und seinem Team möglich, tausende Seiten von Schulbüchern mithilfe von Algorithmen zu durchforsten.

„Es ist eine Art Goldgräberstimmung“, beschreibt es der Göttinger Germanist. Im Interview erzählt er, wo die Herausforderungen für Geisteswissenschaftler stecken, die sich in die Welt der Informatik und Statistik begeben.

science.ORF.at: Sie analysieren gerade die „Welt der Kinder“ im 19. Jahrhundert anhand von alten Schulbüchern - wie kann man sich das vorstellen?

Gerhard Lauer: Uns stehen sämtliche Schulbücher des deutschsprachigen Raums seit Kurzem digitalisiert zur Verfügung. Und mit ihnen Informationen darüber, was Kinder damals über die Welt wussten - über China, Länder in Afrika oder welche politischen Werte sie vermittelt bekamen - monarchistische oder erste liberale Tendenzen. Heute würde man diese Informationen in Büchern der Fächer Geschichte oder Geografie finden.

Zur Person

Gerhard Lauer ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Göttingen. Zu seinen Schwerpunkten zählt er Literaturgeschichte, Kognitive Literaturwissenschaft und Digital Humanities. Er arbeitet am Projekt „Welt der Kinder“ mit.

Warum ist diese Epoche besonders interessant?

Im 19. Jahrhundert wurde die Schulpflicht sukzessive durchgesetzt. Davor mussten Kinder oft arbeiten, konnten gar nicht oder nur sehr eingeschränkt in eine Schule gehen. Das heißt, die Schule fing hier an, die Welt der Kinder zu prägen.

Zur selben Zeit expandierten auch die Kolonialreiche, wodurch auch das Wissen über die Welt wuchs und breite Gesellschaftsbereiche erreichte. Und das durchaus mit regionalen Unterschieden - in Lübeck betrachtete man die Welt zum Teil anders als in Wien oder Tirol.

„Welt der Kinder“ ist ein Projekt, das unter die Digital Humanities fällt – davor haben Sie das Werk des Zoologen Johann Friedrich Blumenbach digitalisiert – wie unterscheiden sich die Projekte?

Bei „Welt der Kinder“ analysieren wir zum ersten Mal historische Texte systematisch und digital. Bei Blumenbach ging es vielmehr darum, seine Texte zugänglich zu machen - sprich, die Inhalte logisch und anschaulich auf einer Website aufzubereiten und teilweise zu übersetzen. Diesen Schritt von der eher editierenden Arbeit hin zur großflächigen Datenanalyse zu schaffen - daran arbeiten Wissenschaftler zur Zeit international, und alle stehen wir mehr oder weniger am Anfang.

Gibt es schon Ergebnisse aus der Schulbuchanalyse?

Wie oft in der Wissenschaft ist es für Ergebnisse noch zu früh – das hängt vor allem damit zusammen, dass wir unsere Methoden ständig verbessern müssen. Was für uns Geisteswissenschaftler relativ ungewohnt ist. Normalerweise wissen wir bereits, was wir lesen müssen und können unsere Arbeiten in absehbarerer Zeit beenden.

Hier ist es eher wie in den Naturwissenschaften: Hauptarbeit ist es, die Analysemethode bestmöglich zu verfeinern, und am Ende hofft man, dass sie zum erwarteten bzw. richtigen Ergebnis führt. Im Moment trauen wir unseren Ergebnissen noch nicht.

Wenn man etwa an die aufkeimenden Ideen des Liberalismus denkt: Wo liegen hier die Schwierigkeiten, entsprechende Stellen in den Büchern zu finden - technisch als auch inhaltlich?

Technologiegespräche Alpbach

Vom 25. bis 27. August finden im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach die Technologiegespräche statt, organisiert vom Austrian Institute of Technology (AIT) und der Ö1 Wissenschaftsredaktion. Das Thema heuer lautet „Neue Aufklärung“. Davor erscheinen in science.ORF.at Interviews mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die bei den Technologiegesprächen vortragen oder moderieren.

Bisher erschienen:

Technisch ist es so, dass viele der Suchalgorithmen auf die moderne Gegenwartssprache ausgelegt sind. Coca Cola untersucht damit etwa, ob ihr Getränk besser in den Sozialen Medien ankommt als Pepsi. Bei Schulbüchern aus dem 19. Jahrhundert variiert die Sprache stark. Das betrifft auch die Zielgruppen - so müssen wir die Algorithmen an die jeweiligen Sprachregister von Kinder- oder Jugendbüchern anpassen, weil wir hier schlicht noch zu grobschlächtig sind.

Inhaltlich liegt die Schwierigkeit darin, bestimmte Wortgruppen zu finden, die liberale Ansätze widerspiegeln. Nach dem Wort „Liberalismus“ selbst zu suchen, bringt nichts - das kommt in Geschichtsschulbüchern des Kaiserreichs erst ca. 350 Mal vor. Also muss man nach Wortgruppen suchen, die damit im Zusammenhang stehen. Hier ist noch unklar, wie viele Wörter zusammen ein Thema ergeben - also beispielsweise „Volk, Souveränität, Verfassung, Staat etc." könnten Hinweise auf liberale Ideen sein. Stehen sie im Zusammenhang mit Worten wie „Adel, König, Stand“, sieht das wieder anders aus. Deshalb müssen wir immer wieder in den Büchern gegenchecken, ob die Maschinen richtig arbeiten und ob wir etwas übersehen.

Was fasziniert sie an der digitalen Text- und Datenanalyse?

Es ist eine Art Goldgräberstimmung, wenn man so will, für uns Germanisten ziemlich ungewöhnlich. Die Vorgängergenerationen haben zu Goethe, Barock etc. ausgezeichnete Arbeit geleistet - da gibt es wenig Neues hinzuzufügen. Plötzlich ist aber wieder alles offen, und wir können ganz neu in die Literatur- und Kulturgeschichte hineinsehen. Dieses Pionierstadium motiviert natürlich.

Ist es für einen Germanisten nicht eine große Herausforderung, sich in die Informatik und Statistik einzuarbeiten?

Das ist tatsächlich so und verändert auch das Verhältnis zwischen meinen Studenten und mir. Viele bringen ein gutes Vorwissen aus diesen Bereichen mit, und es kommt nicht nur einmal vor, dass ich hier etwas von meinen Studenten lernen kann.

Viele sehen im-zur-Verfügung-Stellen von riesigen Datenmengen eine neue Form der Aufklärung - welchen Nutzen zieht die Wissenschaft daraus?

Die Bedeutung der Digitalisierung für die Wissenschaften ist groß - egal ob Geistes-, Sozial- oder Naturwissenschaften. Sieht man sich aktuelle Studien an, so sind die Primärdaten oftmals nicht verfügbar. Für die Reproduktion einer Studie ist das problematisch. In unserem Fall verleihen die digitalisierten Schulbücher den Ergebnissen letztendlich Glaubwürdigkeit.

Interview: Ruth Hutsteiner, science.ORF.at

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