Ein Gletscher im Gallop

Gletscher gelten gemeinhin nicht unbedingt als besonders beweglich - es gibt allerdings Ausnahmen: sogenannte „galoppierende Gletscher“. Forscher haben in detektivischer Arbeit erstmals gezeigt, dass sich ein Gletscher in Kirgistan vor 20 Jahren auf diese Weise bewegt hat.

Dem Team um Hermann Häusler vom Department für Umweltgeowissenschaften an der Universität Wien ging es bei der Arbeit im Tian Shan-Gebirge („Himmelgebirge“) im Grenzgebiet zwischen Kirgistan, Kasachstan und China vor allem um das Sammeln von Daten für die Entwicklung eines Klimamodells, mit dem Ausbrüche von Gletscherseen in der Region besser vorhergesagt werden können.

Das passiert, wenn das untere Ende eines Gletschers, die Gletscherstirn, abschmilzt und sich zwischen dem Ende des Eises und dem aufgehäuften tonigen Gestein, das der Gletscher bei seiner größten Ausdehnung abgelagert hat, ein See bildet. Dieser kann sich unter Umständen schlagartig entleeren - oft mit verheerenden Folgen für die Regionen darunter.

Detektivische Rekonstruktion

Vor Ort wurden Häusler und sein Team im Rahmen ihres von der EU geförderten Projekts aber darauf aufmerksam, dass der Inylchek-Gletscher vor ungefähr 20 Jahren einmal sehr rasch relativ weit gewandert sein dürfte, was auch einen solchen Ausbruch zur Folge hatte. „Auf das haben wir uns dann sozusagen gestürzt“, wie Häusler im Gespräch mit der APA erklärt. „Das eigentliche Ereignis zu rekonstruieren war relativ schwierig, denn eigentlich hat es geheißen, dass das dort gar nicht passiert sein kann.“ Die Ergebnisse wurden nun im Fachblatt „Geomorphology“ veröffentlicht.

Fast detektivisch gestaltete sich dann die Suche nach „Beweisen“: Quasi „unter der Hand“ erhielten die Forscher Luftbildaufnahmen aus den 1940er- und 1950er-Jahren von Geologen und Glaziologen aus der Region. Etwas jüngere Aufnahmen fanden sich in den mittlerweile freigegebenen Archiven US-amerikanischer Spionagesatelliten. In späteren Phasen konnten die Wissenschaftler auch auf hochauflösende Daten von Erdbeobachtungssatelliten zurückgreifen. Besonderes Augenmerk legten sie auf die Zeit zwischen Oktober 1996 bis Juni 1997, in der der Gletscher offenbar in den Galopp gefallen ist.

50 Meter am Tag

„Aus den Aufnahmen konnten wir sehr gut herausmessen, dass es ein Hauptereignis gegeben hat, wo der Gletscher bis zu 50 Meter am Tag wellenartig vorgestoßen ist. Im Juni 1997 hat es dann mit einem Vorstoß von ein paar hundert Metern noch eine kleine Draufgabe gegeben“, sagt Häusler.

Wie es zu diesem Phänomen kommt, ist anhand von Gletschern in Kanada, den USA oder Island sehr gut erforscht. „Es braucht immer einen Überschuss im oberen Einzugsbereich des Gletschers. Dieser Überschuss-Anteil bewegt sich üblicherweise wie eine Raupe oder Surfwelle durch den ganzen Gletscher durch. Wenn dieser Anteil ganz vorne ist, schießt der Gletscher vor“, so der Umweltgeologe.

Das kann nur geschehen, wenn sich die Reibung zwischen den Eismassen und ihrem Untergrund, etwa durch absinkendes Schmelzwasser, stark reduziert. Sozusagen „live“ gesehen hat ein solches Ereignis noch niemand, erklärte Häusler. Der Inylchek-Gletscher verhalte sich zwar offenbar nicht ganz so wie seine bereits bekannten galoppierenden Kollegen, der Ausdruck treffe aber trotzdem zu.

Im Alpenraum gebe es nur sehr wenige Berichte über ähnliche Ereignisse: „Das Phänomen taucht hier in der Literatur nur zwei Mal auf“, sagte Häusler. Einer dieser Fälle ist der Vernagtferner in Tirol, der mehrmals ausbrach, was im Jahr 1845 zu starken Zerstörungen im Ötztal führte.

science.ORF.at/APA

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