Wie die „Kleine Welt“ in den Kopf kommt

Wie schafft es das Gehirn, aus spärlichen Reizen bunte Erinnerungsbilder herzustellen? Österreichische Forscher kennen die Antwort: Die Vernetzung der Neuronen macht es möglich - das Gehirn ist aufgebaut wie eine „Kleine Welt“.

„Wenn ich zu Ihnen sage: Vier Räder, verbraucht Benzin, transportiert Menschen. Woran denken Sie? An ein Auto, genau! Sie können nicht anders“, sagt Jose Guzman, Neurowissenschaftler am IST Austria in Klosterneuburg. Guzman ist Spezialist für den Hippocampus, jene Region im Gehirn, die für Lernen und Gedächtnis verantwortlich ist.

Die Erinnerung, so Guzman, funktioniere auf allen Ebenen wie beim Beispiel mit dem Auto, auch beim Sehen, Hören, Tasten. Überall werde aus bruchstückhafter, unvollständiger Information ein Ganzes hergestellt. „Pattern completion“ bzw. „Musterergänzung“ nennen das die Neurobiologen. Wer den Rüssel eines Elefanten sieht, hat umgehend das Bild des ganzen Elefanten im Kopf - das erledigt der Hippocampus automatisch.

Zu wenige Verbindungen?

Nur: Wie tut er das? Dieser Frage ist Guzman in seiner letzten Studie nachgegangen. Er und seine Mitarbeiter haben mit Hilfe von Elektroden die Vernetzung von 300.000 Nervenzellen im Hippocampus der Maus unter die Lupe genommen - und zunächst Unerwartetes entdeckt. Die Neuronen dort sind untereinander ziemlich schwach vernetzt, im Schnitt nur zu einem Prozent. 99 Prozent der möglichen Kontakte spart das Gehirn offenbar ein. Das mag energieschonend sein, macht die Leistung des Hippocampus allerdings umso rätselhafter.

Wie die Forscher vom IST Austria herausgefunden haben, kommt es auch gar nicht so sehr auf die Zahl der Verbindungen an, sondern auf das Muster der Verbindungen. Laut Guzman ist der Hippocampus auf gebaut wie eine „Kleine Welt“. Der Begriff stammt aus der Netzwerktheorie und beschreibt den Umstand, dass man mit nur wenigen Schritten einen beliebigen Ort im Netzwerk erreichen kann, sofern dieses die richtige Kombination von kurzen und langen Verbindungen aufweist.

Konkretes Beispiel: Von Wien aus wird man per Direktflug nicht zu einem Provinzflughafen in Kamtschatka kommen, aber mit ein paar Mal Umsteigen ist es kein Problem. Es braucht eben beides, den Langstreckenflug und den kurzen. So ähnlich funktioniert auch das Gehirn, sagt Guzman. „Man muss bloß ein paar Zellen im Hippocampus stimulieren, dann werden früher oder später auch die anderen Nervenzellen aktiv, die an einer Erinnerung beteiligt sind.“

Experiment: Psychologe verschickt Briefe

Die Theorie der „Kleinen Welt“ wurde von den beiden Mathematikern Duncan Watts und Stephen Strogatz Ende der 90er Jahre entwickelt, doch bereits 30 Jahre zuvor hatte hat der amerikanische Psychologe Stanley Milgram bei einem Experiment etwas ganz Ähnliches beobachtet.

Milgram verschickte damals Briefe an 60 zufällig ausgewählte Studienteilnehmer in den USA mit der Bitte, sie mögen den Brief an einen vorher festgelegten Empfänger in Boston weiterleiten. Allerdings nicht direkt, sondern durch Sendung an einen persönlichen Bekannten, von dem die Teilnehmer annehmen konnten, er sei dem Empfänger irgendwie nahestehend - sei es geografisch, freundschaftich oder sonst irgendwie. Die gleiche Aufforderung ging dann auch an den nächsten Adressaten, an den übernächsten … Resultat: Im Schnitt brauchte es nur sechs Sendungen, bis der Brief sein Ziel erreichte.

Dieses Ergebnis ging unter der Kurzformel „Six degrees of separation“ in die Wissenschaftsgeschichte ein und wurde seitdem mehrfach bestätigt, etwa in sozialen Netzwerken im Internet.

Auch im Mäusegehirn kommt ein Reiz erstaunlich schnell am richtigen Ort an, sagt Guzman. „Das Netzwerk der Neuronen benötigt im Schnitt sechs bis zehn Schritte, bis sich ein Erinnerungsmuster vervollständigt.“ Nun will der spanische Neurobiologe Mäuse mit veränderten Neuronenverbindungen im Hippocampus züchten. Wie sich das auswirken wird, ist ungewiss. „Es könnte sein, dass die Mäuse dann ein gestörtes Gedächtnis haben. Aber ich kann auch nicht ausschließen, dass sie besser werden.“

Robert Czepel, science.ORF.at

Mehr zu diesem Thema: