Geschichte des Lesens und Schreibenlernens

Wie lernen Kinder am besten Lesen und Schreiben? Das ist nicht erst seit den Diskussionen um Schreibschrift und E-Books umstritten: Die Historiker Reinhard Buchberger und Sylvia Mattl-Wurm blicken zurück.

Wenn dieser Tage wieder für tausende Kinder erstmals die Schulglocken läuten, wiederholen sich auch die altbekannten Rituale: aufgeregte Taferlklassler vor dem Schultor, teils festlich gekleidet und mit Schultüten in der Hand, begleitet von den extra angereisten, mit Fotoapparaten bewaffneten Großeltern.

Die Autoren

Reinhard Buchberger ist Historiker, Mitkurator und Bibliothekar an der Wienbibliothek im Rathaus.

Sylvia Mattl-Wurm ist Historikerin, Kunsthistorikerin und Direktorin der Wienbibliothek im Rathaus.

Spätestens wenn sich die Türen des Klassenzimmers schließen, wissen auch die Eltern, dass nun ein neuer Abschnitt im Leben ihrer Kleinsten begonnen hat: Sie sind nun „Tafelkratzer, Tintenpatzer“ - so auch der Titel einer Ausstellung, die derzeit in der Wienbibliothek zu sehen ist und die sich aus historischer Perspektive dem Lesen- und Schreibenlernen in Wien nähert: Der Bogen spannt sich von der Schulpflicht Maria Theresias und dem ersten Schulzeugnis Franz Grillparzers, von historischen Schultüten, Schulbüchern aus fünf Jahrhunderten bis hin zu den Schulreformen des Roten Wien und dem Schulalltag der NS-Zeit.

Helmut Qualtinger: Ein Tag zu früh

Nicht immer sind die mit dem Schulbeginn verbundenen Probleme so harmlos wie die Helmut Qualtingers, der im September 1934 einen Tag zu früh in der Schule erschienen war: „Er war schweigsam und ging scheinbar enttäuscht weg. Daheim zeigte er sich jedoch erleichtert und war übermütig. Er sucht Bleistifte und steckt sie in den Sack ‚für morgen‘ sagt er“, notierte seine Mutter Ida den Vorfall in ihrem Tagebuch.

Während sich der spätere „Herr Karl“ recht schnell in den Schulalltag einfand, bedeutet der mit dem Schulbeginn einsetzende Leistungsdruck und vor allem die ungewohnten Verhaltensnormen (ruhiges Sitzen und konzentriertes Arbeiten, Aufzeigen etc.) für viele Kinder eine enorme psychische Belastung. Hinzu kommen neue Herausforderungen, denen sich Schüler wie Lehrer heute konfrontiert sehen: Unser Zeitalter bringt ein ständiges Anwachsen digitaler Inhalte mit sich, denen gegenüber klassische Lernformen - wie etwa Texte in (gedruckten) Büchern oder das Erlernen der Handschrift - geradezu in Erklärungsnotstand geraten.

Tagebuch von Ida Qualtinger, 1933-1935

Wienbibliothek - WBR, HS, H.I.N. 219485

Tagebuch Ida Qualtinger, 1933-1935

Nicht allein im schulischen Bereich ist Schrift heute allgegenwärtig: Ein großes Angebot an Kindermagazinen, Lern- und Rätselheften sorgt dafür, dass viele Kinder lange vor Beginn der Schule über Grundkenntnisse im Rechnen, Lesen und Schreiben verfügen. Dem gegenüber stehen Kinder aus bildungsfernen Schichten oder mit Migrationshintergrund, für die allein das Verständnis der Unterrichtssprache Schwierigkeiten bereiten kann. Ob der Einsatz digitaler Medien in Schulen diese Bildungskluft in Zukunft schließen helfen kann oder sie sogar weiter öffnet, ist noch umstritten.

Schreiben und Lesen - keine triviale Sache

Dass das Lesen- und Schreibenlernen keineswegs als triviale Sache zu betrachten ist, wie der Name der „Trivialschule“, der Grundschule in Österreich zu Maria Theresias Zeiten also, glauben machen könnte, zeigt ein Blick in die historischen Schulbücher: In der Fülle miteinander konkurrierender Lernmethoden widerspiegelt sich auch die Unsicherheit, wie das heikle Thema am besten zu packen sei.

Ausstellung

„Tafelkratzer, Tintenpatzer. Schulgeschichten aus Wien“, bis 11. November, werktags Montag bis Donnerstag 9 bis 18.30 Uhr, Freitag 9 bis 16.30 Uhr; Ausstellungskabinett der Wienbibliothek im Rathaus, Stiege 6, 1. Stock, 1010 Wien

Von Beginn an, und das heißt im Prinzip seit der römischen Antike bzw. dem Mittelalter, herrschte die so genannte Buchstabiermethode vor, die die Kenntnis der Buchstaben und ihrer Namen als vorrangiges Lernziel definierte. In der schulischen Praxis bedeutete dies für die Kinder ein ermüdendes, meist im Chor veranstaltetes Herunterbeten des ABC - zum Lesen und Schreiben ging man erst viel später über. Obwohl schon im 16. Jahrhundert von dem deutschen Grammatiker Valentin Ickelsamer entdeckt, konnte sich die so genannte Lautiermethode, die im Gegensatz dazu den Lautwert des gesprochenen Wortes im Fokus hatte, lange nicht durchsetzen - auch in Österreich blieb das Buchstabieren bis lange nach Einführung der Allgemeinen Schulpflicht (1774) State of the Art.

Auch anhand der ersten österreichischen Schulbücher lässt sich dies noch zeigen: Anders als in den protestantischen Regionen des Reichs wurden Schulfibeln hierzulande aber erst seit dem 18. Jahrhundert gedruckt, zuvor war der katholische Katechismus zum Leseunterricht in Verwendung.

Unterricht in einer Knaben-Volksschule um 1750

Wien Museum Karlsplatz, Inv. Nr. 75409

Unterricht in einer Knaben-Volksschule, um 1750

„Schulbücherverschleiß-Administration“

Im 19. Jahrhundert gesellten sich zu den genannten synthetischen Methoden, die den Sprechvorgang als Synthese einzelner Partikel - Buchstaben, Laute oder Silben - verstehen, auch die analytische oder Normalwörtermethode, die vom Wortbild als Gesamtheit ausgeht. Ausdruck dafür sind die so genannten „Ast-Nest-Fibeln“, die immer mit diesen beiden Wörtern und den dazu gehörenden Illustrationen begannen.

Auch mit Fragen der Multilingualität und Multikonfessionalität bekam man es in der Schule des alten Österreich bereits zu tun: Penibel listen die Verlagskataloge der 1772 gegründeten „Schulbücherverschleiß-Administration“, des späteren Österreichischen Bundesverlages, die Schulbuchtitel in allen Sprachen der Monarchie auf und die im Staatsverlag erscheinende „Fibel für die Volksschulen im Kaiserthum Österreich“ erschien ab den 1860er Jahren nicht nur in der katholischen, sondern auch in sensibel modifizierten evangelischen und israelitischen Ausgaben.

Ideologischer Methodenstreit

Der Methodenstreit verlor zunehmend an ideologischer Schärfe. Es traten immer mehr Hybridformen sowie die heute vorherrschenden integrierten Methoden und offenen Lehrangebote in den Vordergrund: Die Fibeln trugen nun Titel wie „analytisch-synthetische Methode“, schließlich versuchte die „Los-von-der-Fibel-Bewegung“ ganz ohne Erstlehrbücher auszukommen oder den Kindern die Gestaltung ihrer Fibeln selbst zu überlassen. Was die Inhalte und grafische Aufmachung betrifft, entdeckten auch die autoritären Regime des frühen 20. Jahrhunderts die Schulfibel für ihre Zwecke: So mussten die modern anmutenden Schulbücher des Roten Wien mit ihren kindgerechten Illustrationen bald den christlich-ständestaatlichen Inhalten des Austrofaschismus bzw. den marschierenden Braunhemden und „Heil-Hitler“-Rufen der Nationalsozialisten weichen.

Gedruckte Fibeln blicken auf eine über 500 Jahre alte Geschichte zurück - aber wie lange wird es sie noch geben? Für die Sekundarstufe II stehen in Österreich bereits in diesem Schuljahr E-Books flächendeckend im Einsatz, und die jüngste Bildungsreform kündigte eine Ausstattung aller Schulen mit High-Speed-Internet und W-Lan bis spätestens 2020 an. Der Startschuss in ein neues, besseres, „digitales Zeitalter“ oder der Anfang vom Ende der Schriftlichkeit?

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