Der tiefe Fall des „zweiten Darwin“

Wissenschaftliche Triumphe, private Turbulenzen, Selbstmord: Eine neue Biografie arbeitet das Leben des österreichischen Biologen Paul Kammerer auf - ein Stück Wissenschaftsgeschichte, das sich wie ein packender Thriller liest.

Paul Kammerer (1880-1926) war wohl einer der bekanntesten Wissenschaftler im Wien des frühen 20. Jahrhunderts. Ein genialer Experimentator - aber auch ein Unbequemer. Der orthodoxe Darwinismus war seine Sache nicht. Er hielt das Konzept von der natürlichen Auslese für unvollständig und suchte nach alternativen Erklärungen für die augenscheinliche Anpassung der Lebewesen.

Umstrittene Experimente

Klaus Taschwer: „Der Fall Paul Kammerer. Das abenteuerliche Leben des umstrittensten Biologen seiner Zeit“, Carl Hanser Verlag, 352 Seiten, 24,70 Euro;

Buchpräsentation am 16. Oktober um 11 Uhr im Jüdischen Museum Wien. Der Eintritt ist frei.

Seine wissenschaftliche Heimat war die Biologische Versuchsanstalt (BVA) - ein auf Privatinitiative der drei jungen Biologen Hans Leo Przibram, Leopold von Portheim und Wilhelm Figdor 1903 gegründetes Forschungszentrum im Wiener Prater.

Im Zentrum von Kammerers Forschung stand die Frage: Können Tiere Eigenschaften, die sie im Laufe ihres Lebens erworben haben, auch an die nächste Generation weitergeben? Kammerer schloss aus seinen Experimenten: Ja, das können sie.

So brachte er etwa Feuer- und Alpensalamander durch Manipulation ihres Lebensumfeldes dazu, ihr Fortpflanzungsverhalten zu ändern. Ähnliches gelang ihm in den später kontrovers diskutierten Experimenten mit sich normalerweise am Land fortpflanzenden Geburtshelferkröten.

Diese zwang Kammerer ins Wasser, woraufhin deren männliche Exemplare „Brunftschwielen“ entwickelten, die sie vor dem Abrutschen vom Weibchen im Wasser bewahren. Das Entscheidende dabei: Diese Veränderungen traten auch bei Nachkommen dieser Tiere auf, die nicht unter veränderten Umständen lebten.

Paul Kammerer

Public Domain

Paul Kammerer (1880-1926)

Das führte zu viel positiver wie negativer Aufmerksamkeit, weit über die wissenschaftliche Gemeinde hinaus. Die „New York Times“ bezeichnete ihn gar als „zweiten Darwin“.

Eine nicht ganz treffende Zuschreibung: Denn Kammerer befand sich mit seinen Versuchen auf den Spuren von Darwins großem historischen Konkurrenten, dem Franzosen Jean-Baptiste de Lamarck. Jener Naturforscher also, der bereits im 18. Jahrhundert eine Theorie der erworbenen Eigenschaften formuliert hatte - und dessen Werk unter dem Stichwort „Epigenetik“ heute eine Renaissance zu feiern scheint.

Wie der Wissenschaftspublizist Klaus Taschwer anhand zahlreicher Quellen in seinem neuen Buch illustriert, speiste sich die Heftigkeit der Reaktionen auf Kammerers Versuche auch aus ihrer weltanschaulichen Brisanz. Anlage oder Umwelt, „nature versus nurture“ - in Kammerers Oeuvre kollidierten grundlegende Motive, es diente als Brennpunkt von Debatten, wissenschaftlich wie ideologisch.

Faschistische Seilschaften

Neben seiner Forschungstätigkeit war Kammerer auch das, was man heute als umtriebigen Wissenschaftskommunikator und damals als „Volksbildner“ bezeichnete. Seine zahlreichen populärwissenschaftlichen Vorträge und Publikationen machten ihn in manchen Forscherkreisen verdächtig, genauso seine jüdische Abstammung mütterlicherseits.

Am Beispiel Kammerers zeigt Taschwer, der in der vergangenen Woche mit dem Staatspreis für Wissenschaftspublizistik ausgezeichnet wurde, anschaulich auf, wie früh sich an der Universität Wien Seilschaften bildeten, deren Ziel es vor allem war, Karrieren von jüdischen Forschern zu verhindern.

Trotz seiner Popularität stieg Kammerer wie zahlreiche andere Wissenschaftler aus der BVA in Wien nicht zum Professor auf. Bezeichnenderweise landeten seine Verhinderer später im austrofaschistischen Ständestaat und nach dem „Anschluss“ an Nazi-Deutschland teilweise in hohen Positionen. Einige BVA-Mitarbeiter wurden vom Nazi-Regime ermordet, darunter auch der Instituts-Mitbegründer und Kammerer-Mentor Przibram.

Ein Spross der Wiener Moderne

Einmal mehr wird bei der Lektüre klar, wie dynamisch sich Wissenschaft und Kunst in Wien am Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten und gegenseitig befruchteten. Kammerer stand mit vielen bekannten Persönlichkeiten aus beiden Bereichen in Kontakt.

Paul Kammerer auf einem Dampfschiff

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Vor dem tiefen Fall: Paul Kammerer während der Überfahrt nach Amerika, wo er im Novemver 1923 triumphale Auftritte feierte

Gleichzeitig wird an vielen Stellen im Buch allzu deutlich, wie groß der intellektuelle Aderlass bereits war und wie stark sich gleichzeitig der Antisemitismus im Aufwind befand.

Insgesamt zeichnet Taschwer ein detailreiches Bild einer hin- und hergerissenen Person, der es letztendlich versagt blieb, ihren privaten und beruflichen Platz zu finden. Viel Raum widmet er auch dem turbulenten Privatleben des Forschers - so etwa seiner langjährigen Korrespondenz mit dem damaligen „It-Girl“ Wiens, Alma Mahler.

Eine andere unglückliche Liebschaft, chronische Geldsorgen, eine ungewisse berufliche Zukunft und der Befund des amerikanischen Forschers Gladwyn Kingsley Noble, dass die Brunftschwiele am letzten existierenden Geburtshelferkröten-Präparat eine Fälschung war, führten vermutlich zum Entschluss Kammerers, sich am 23. September 1926 zu erschießen.

Der Selbstmord und vor allem die zeitliche Nähe zum Fälschungsvorwurf erzeugte weltweites Medienecho. Zweifel an Kammerer als Urheber der Fälschung bestanden allerdings auch immer. Taschwer teilt diese - und formuliert zu diesem Fall eine neue, durch historische Dokumente gestützte Theorie.

science.ORF.at/APA

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