Österreicher beim Nürnberger Prozess

21 Männer der NS-Führung wurden am 30. September 1946 verurteilt, unter ihnen zwei Österreicher. Auch der wichtigste Zeuge der Anklage war Österreicher. Und beim Prozess wurde erstmals simultan übersetzt, beteiligt war ein jüdischer Flüchtling aus Wien.

1938 muss Siegfried Ramler aus Wien fliehen, um sein Leben zu retten. „Meine Eltern sahen schon, dass wir alle bedroht waren“, erinnert sich Ramler. Nach dem „Anschluss“ führt der neue „Reichsstatthalter“ der Ostmark, Arthur Seiß-Inquart, die „Nürnberger Rassegesetze“ ein. „Die Konsequenzen waren weitreichend“, sagt Historiker Gerhard Jagschitz. Die Juden in Österreich sind mit Ausgrenzung, Ausplünderung und Vertreibung konfrontiert.

Siegfried Ramler mit seinem Vater in Wien vor dem „Anschluss“

ORF/Siegfried Ramler

Siegfried Ramler mit seinem Vater in Wien vor dem „Anschluss“

Sendungshinweis

Der Rolle der Österreicher widmet sich auch die Dokumentation „Anklage Massenmord - 70 Jahre Nürnberger Prozess“, am 28.9. um 22:30 Uhr in ORF 2 bei Menschen&Mächte.

Wer nicht flieht, der wird in Konzentrationslager deportiert werden. Rund 60.000 österreichische Juden werden dort ermordet. 14 Jahre ist Siegfried Ramler alt, als seine Eltern ihn in einen Kindertransport nach England setzen. Sie selbst können erst ein Jahr später mit dem Kladovo-Transport nach Palästina fliehen.

Ein Dolmetscher aus Österreich

Ramler überlebt als Jugendlicher in London den „Blitz“, die Bombardierung durch die deutsche Luftwaffe. Nach der Landung in der Normandie schließt er sich den alliierten Truppen an, als Zivil-Dolmetscher. Als der nach Kriegsende vom geplanten Prozess in Nürnberg hört, meldet er sich freiwillig: „Ich bin nach Nürnberg zum Justizpalast und ging zu einem Staboffizier. Der hat mich sehr herzlich empfangen und gesagt: ‚Wir brauchen solche Leute wie Sie, wir brauchen sprachkundige Menschen. Beginnen Sie gleich nächste Woche.“

Literatur

Harry Carl Schaub: Abwehr-General Erwin Lahousen, 2015

Klaus Kastner: Von den Siegern zur Rechenschaft gezogen – Die Nürnberger Prozesse, 2001

Gustave M. Gilbert: Nürnberger Tagebuch, 1995

Laut Prozessordnung sind die Verhandlungen vor dem Militärtribunal in Nürnberg viersprachig abzuhalten: Deutsch, Englisch, Russisch und Französisch. Eigens für den Gerichtssaal 600 des Nürnberger Justizpalasts wird eine Verkabelung mit Schaltkästen entwickelt, um an jedem Sitzplatz vier Ton-Kanäle über Kopfhörer abhören zu können. In wenigen Wochen werden Männer und Frauen wie Siegfried Ramler eingeschult, um gleichzeitig zum Prozessgeschehen jedes gesprochene Wort in alle Prozess-Sprachen übersetzen zu können. Der Beruf des Simultandolmetschers entsteht. Fünf Jahre lang, vom ersten Prozess, dem Internationalen Militärtribunal, über alle von den Amerikanern abgehaltenen zwölf Nachfolgeprozesse ist der Gerichtssaal 600 Siegfried Ramlers Arbeitsplatz. Am Ende leitet er die US-Dolmetsch-Abteilung.

Der Prozess startet

Am 20. November 1945 startet der Hauptkriegsverbrecherprozess, auf der Anklagebank sitzen 21 Männer der NS-Führungselite. Einer der Angeklagten ist Arthur Seyß-Inquart, verhandelt wird über seine Rolle beim „Anschluss“ 1938 – und seine Zeit in den ab 1940 besetzten Niederlanden: „Beim Prozess kam immer mehr heraus, dass das wirklich Problematische seine Zeit in den Niederlanden war. Es gab massive Repressionen und eine Ausplünderung des Landes, die Seyß-Inquart als Chef der Zivilverwaltung zu verantworten hatte“, sagt der Andreas Mix, Historiker am Memorium Nürnberger Prozesse. „Er war für die Deportation der Juden verantwortlich, er war mitverantwortlich für die Unterdrückung des Widerstandes, für die Erschießung von Geiseln und Ähnliches.“

Sehr früh im Prozess steht Arthur Seiß-Inquart einem anderen Österreicher gegenüber, aufgeboten als Kronzeuge der Anklage: dem Abwehroffizier Erwin Lahousen. Lahousen war bereits Offizier in der k.u.k.-Armee und im Bundesheer der 1. Republik gewesen; im Dritten Reich machte er rasch Karriere, seit 1939 leitete er die Abteilung II in der Abwehr, dem militärischen Geheimdienst. Den NS-Terror, etwa die Verbrechen gegen russische Kriegsgefangene, sieht Erwin Lahousen aus nächster Nähe. Dem bekannten US-amerikanischen Gefängnispsychologen Gustave M. Gilbert, der in Nürnberg mit Angeklagten sowie Zeugen sprach, sagt Lahousen: „Ich muss aussagen für alle die, die sie ermordet haben.“ Auch seine 2015 verstorbene Witwe Stefanie Lahousen erinnert sich an das Hauptmotiv für seine Aussage vor dem Militärgericht in Nürnberg: „Mein Mann hat gesagt, er fühlt sich verpflichtet, seine Militärkameraden, die man getötet hat, zu rechtfertigen.“

Ein Kronzeuge aus Österreich

Als Lahousen schließlich am 30. November in den Zeugenstand gebeten wird, trauen die Angeklagten ihren Augen nicht: "Da haben wir eines von den Schweinen, das wir am 20. Juli vergessen haben umzulegen. Jetzt wundere ich mich nicht mehr, dass wir den Krieg verloren haben“, sagt Herrmann Göring von der Anklagebank in Richtung Erwin Lahousen. Mit dem Zeugen Lahousen gelingt der Anklage ein Coup, er ist bereit, über die verbrecherischen Befehle auszusagen, die im innersten Kreis der NS-Elite beschlossen wurden. „Es war für die Angeklagten ein Schock, dass sie da einer aus ihrem Kreis so belastet“, sagt Historiker Andreas Mix.

Kronzeuge Erwin Lahousen im Zeugenstand in Nürnberg

ORF/NARA Washington

Kronzeuge Erwin Lahousen im Zeugenstand in Nürnberg

Für einige auf der Anklagebank wird es aufgrund der Aussagen Lahousens eng, etwa für den Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Wilhelm Keitel oder Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop. Am 30. September 1946 beginnt das Gericht in Nürnberg, die Urteile zu verlesen: Neben Arthur Seiß-Inquart und dem zweiten Österreicher auf der Anklagebank, Ernst Kaltenbrunner, Leiter des Reichssicherheitshauptamtes, werden zehn weitere Angeklagte zum Tode verurteilt. Drei Angeklagte werden zu lebenslanger Haft und vier zu langen Haftstrafen verurteilt. Drei Angeklagte werden freigesprochen.

Erwin Lahousen bleibt nach seiner Aussage in Nürnberg in alliierter Kriegsgefangenschaft. Erst im Juni 1947 kehrt er nach Österreich heim, wo er immer wieder als „Verräter“ angefeindet wird. Am 24. Februar 1955 stirbt er, 57-jährig, an seinem dritten Herzinfarkt in Innsbruck.

Siegfried Ramler lernt in Nürnberg seine spätere Ehefrau kennen, eine Mitarbeiterin des Gerichtshofes aus Hawaii. Nach dem Ende des 12. Nürnberger Nachfolgeprozesses übersiedelt er mit ihr nach Hawaii, lehrt dort europäische Sprachen, lernt Chinesisch und gründet das East-West-Center zur Verständigung zwischen China und den USA. Auch 70 Jahre nach der Urteilsverkündigung macht es Siegfried Ramler glücklich, am Nürnberger Prozess, einem Vorläufer der internationalen Gerichtsbarkeit der Gegenwart, beteiligt gewesen zu sein: „Die Lehren aus Nürnberg wurden gezogen. Heute muss jeder Politiker die Prinzipien des internationalen Rechts und der Menschlichkeit berücksichtigen.“

Gregor Stuhlpfarrer und Robert Gokl, Menschen&Mächte

Mehr zum Thema