Wir sind alle Urmenschen

Ob nun „Steinzeit-Diät“ oder die Hypothese, dass der Mensch trotz einer Millionen Jahre währenden Entwicklung nicht perfekt für sein Leben ausgerüstet ist. Ein neues Buch will für Aufklärung sorgen: „Der Gen-Kultur-Konflikt“.

Im Grunde geht es immer um das Thema, das der deutschen Humangenetikers Werner Buselmaier, emeritierte Professor seines Fachgebietes (Humangenetik/Anthropologie an der Uni Heidelberg), gleich als Titel des ersten Kapitels formuliert: „Warum die Steinzeit für uns aktuell ist“. Sehr sogar. Immerhin lassen sich die Geburtsstunde und der Geburtsort des modernen Menschen auf vor rund 150.000 Jahren in Ostafrika festlegen. Und von dem stammt auch unsere genetische Ausstattung.

Zu schnelle Entwicklung

Wie eng alle Menschen dieser Erde miteinander verwandt sind, zeigt sich darin, dass Homo sapiens beim Antritt seiner Wanderung - seiner fast ständigen Migration auf der Suche nach optimalen Lebensumständen - vor 80.000 Jahren in Afrika nur aus 1.000 bis 10.000 Individuum bestanden hat. Und als mit Ackerbau und Sesshaftigkeit in der Jungsteinzeit die erste kulturelle Revolution vor um die 9.000 Jahre erfolgte, waren es erst etwas mehr als fünf Millionen Menschen.

Buchhinweis

Werner Buselmaier: Der Gen-Kultur-Konflikt. Springer Verlag Berli/Heidelberg. 160 Seiten, ISBN 978-3-662-49394-6

Bis zum heutigen Handy-Zeitalter verliefen die Veränderungen der Umwelt, des Lebensstils und der Kultur rasend schnell. Anhänger der Mismatch-Theorie meinen: zu schnell, um gesund zu sein. So entstand, wie Buselmaier anführt, die Laktose-Toleranz, die Fähigkeit, Milchzucker zu verdauen, erst mit Viehzucht und Milchwirtschaft - eben bei einem geringen Teil der Menschheit. Das macht viele Laktose-intolerant. Die höhere UV-Empfindlichkeit „Weißer“ dürfte wohl mit der Förderung der Vitamin D-Bildung zur Sicherstellung der Knochenwachstums etc. in Populationen auf der sonnenärmeren nördlichen Hemisphäre zu tun gehabt haben.

Noch nicht vorbereitet

Doch auf viele andere „moderne“ Lebensumstände ist die Menschheit genetisch noch nicht vorbereitet: Die Ernährung der Steinzeitmenschen bestand zu rund einem Drittel aus Proteinen, zu etwa 20 Prozent aus Fett und zu rund 45 Prozent aus Kohlenhydraten. Die derzeitigen Empfehlungen sprechen für 15 Prozent Protein, 30 Prozent Fett und 55 Prozent Kohlenhydrate. In Wahrheit sind es beim Fett in der Post-Industriegesellschaft deutlich mehr.

Insgesamt stößt der genetisch auf ständigen Nahrungsmangel und somit Speicherung (Körperfett) ausgelegte menschliche Organismus heute auf ein permanentes Überangebot. Gleichzeitig treibt eine Übermenge Salz - jedes Gramm war ehemals überlebenswichtig für die Aufrechterhaltung des Flüssigkeitshaushalts in der Hitze Ostafrikas - den Blutdruck von Homo sapiens sapiens des Jahres 2016 in die Höhe.

Büselmaier zeigt mit zahlreichen Beispielen, wie die Umwelt den Menschen formt oder wo er durch seine Herkunft nicht optimal gerüstet ist. Ein Beispiel: „Vieles spricht dafür, dass Umwelteinflüsse in der modernen Gesellschaft (Nahbeschäftigung; Anm.) für die Zunahme der Kurzsichtigkeit verantwortlich sind.“

Vernunft hilft

Ein anderer Aspekt: Der Mensch ist nach wie vor ein Organismus, der eigentlich auf eine Lebenserwartung bis zur erfolgten Aufzucht der Nachkommenschaft programmiert ist. Womit Morbus Alzheimer & Co. eben etwas darstellen, was eigentlich gar nicht „vorgesehen“ ist. Und wahrscheinlich sei die Zunahme psychischer Probleme und psychiatrischer Erkrankungen eben darauf zurückzuführen, dass die hektische moderne Lebensumwelt die angeborenen psychischen Kompensationsmechanismen überfordere.

Der Autor stellt die Sachlagen fundiert dar, vermeidet missionarische Gegenstrategie-Entwürfe wie das schnelle Schlucken von Nahrungsergänzungsmitteln, Probiotika oder sonstiger „Wundermittel“. Interessant: Aus der Allgegenwart von Religionen in der Menschheitsgeschichte leitet er einen das Überleben der Art fördernden Effekt von Glauben (jeglicher Art) ab. Womit man bei Kultur und auch Vernunft ist. Der Mensch ist das erste Lebewesen, das mit seiner sich selbst reflektierenden Intelligenz allfällige physiologische und genetische Defizite durch Verhaltensänderung ausgleichen kann. Nur tun muss er es.

science.ORF.at/APA

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