Alternativuni trotzt Erdogans Säuberungswelle

Nach dem Putschversuch in der Türkei wurden Tausende Dozenten suspendiert oder entlassen. Geschasste Akademiker haben nun eine Alternativuni ins Leben gerufen - zur Freude von Studenten, die beklagen, ihre Hochschulen würden auf Regierungskurs gezwungen.

An die hundert Zuhörer drängen sich in dem kleinen Veranstaltungsraum der regierungskritischen Bildungsgewerkschaft Egitim-Sen in der türkischen Stadt Kocaeli, eine Autostunde von Istanbul entfernt. Manche balancieren Schreibblöcke auf den Knien, andere halten Aufnahmegeräte bereit. Güven Bakirezer, Dozent für Sozialwissenschaften, lächelt und entschuldigt sich für eventuelle Mängel, Räumlichkeiten und Vorlesungen seien immer noch improvisiert.

Bakirezer darf das Gelände der Universität in Kocaeli nicht mehr betreten, das Schloss zu seinem Büro wurde ausgetauscht. Zusammen mit 18 Kollegen aus seiner Universität steht er unter Terror-und Putschverdacht. Sie gehören zum Netzwerk „Akademiker für den Frieden“, das sich mit einer Petition für ein Ende der Militäreinsätze in den kurdischen Gebieten einsetzte.

Meinungsfreiheit nach John Stuart Mill

Mehr als 1.100 Wissenschaftler unterschrieben den ursprünglichen Aufruf vom Januar. Im Mai wurde der Initiative der Aachener Friedenspreis verliehen. Landesweit wurden nach dem Putschversuch vom 15. Juli mehr als 40 der Unterzeichner von ihren Universitäten entlassen. Als Grundlage dienen die Notstandsdekrete, auch wenn keine Verbindung zwischen Petition und Putsch zu erkennen ist.

Um weiterhin lehren zu können, riefen die entlassenen Dozenten in Kocaeli eine alternative Universität ins Leben. Vorerst sind 19 Seminare geplant. Thema heute: Der Begriff der Meinungsfreiheit in der Definition des britischen Philosophen John Stuart Mill.

„Laut Mill muss die Mehrheit vor allem dafür sorgen, dass gerade diejenigen, die in einer Gesellschaft am wenigsten gehört werden, eine Stimme finden“, erklärt Bakirezer. Das Publikum reagiert sofort. Was hielte Mill dann von den Schließungen zahlreicher kritischer Medien in der Türkei? Von der Zensur? Der Dozent lächelt. „Das fände er grundfalsch.“

Erdogan eröffnet akademisches Jahr

Seit dem gescheiterten Putsch hat sich der ohnehin große Druck auf Akademiker weiter verstärkt. Universitäten wurden über Nacht geschlossen. Tausende Uni-Mitarbeiter wurden suspendiert oder entlassen. Kritiker bemängeln, dass die Universitäten zusehends unter Kontrolle der islamisch-konservativen AKP-Regierung gestellt werden.

Am kommenden Dienstag (18. Oktober) wird das akademische Jahr erstmals in der Geschichte der Türkei im Präsidentenpalast durch Staatschef Recep Tayyip Erdogan eröffnet, im Beisein aller Rektoren. „So schlimm war es nicht einmal nach dem Militärputsch von 1980“, sagt ein Akademiker. Aus Angst vor staatlichen Repressalien will er seinen Namen nicht veröffentlicht sehen, so wie die allermeisten Gesprächspartner in Kocaeli.

„Ich weiß immer noch nicht, was mir eigentlich vorgeworfen wird“, sagt Kuvvet Lordoglu, ebenfalls Unterzeichner und Professor für Arbeitsökonomik an der Universität Kocaeli. Seit mehr als 35 Jahren lehrt er an Hochschulen. Mit dem Rauschmiss wurde sein Gehalt gestrichen. Doch geschlagen gibt er sich nicht.

AKP-Dozenten: Propaganda bis Langeweile

„Sie können uns von der Universität schmeißen, aber sie können uns nicht davon abhalten, weiterhin der Öffentlichkeit zu dienen“, sagt Lordoglu. „Bis wir auf unsere Posten zurückkehren können, wollen wir die Beziehung zu unseren Studenten aufrechterhalten.“

Im Saal der Alternativvorlesung ist die Begeisterung für die Initiative groß. In dem Veranstaltungsraum der Gewerkschaft sitzen nicht nur Studenten. Er habe sich sogar schon im Gerichtssaal auf Mills Konzept der Meinungsfreiheit berufen, sagt ein Anwalt zufrieden. Und was sagt Mill zu Rassismus, zu Diskriminierung? Laut Mill dürfe man auch furchtbare Sachen sagen, sagt Bakirezer, ob des regen Austausches sichtlich begeistert. Die Idee sei, kontroverse, gefährliche oder unethische Ideen nicht durch Gesetze, sondern durch Gegenargumente zu entkräften. „Das wäre doch mal was, in der Türkei“, ruft jemand dazwischen, er wird mit Gelächter belohnt.

„Ich finde diese Seminare unglaublich nützlich“, sagt ein Politikstudent. „Hier findet ein Gedankenaustausch statt, hier wird diskutiert. An unserer Universität ist das mittlerweile unmöglich geworden.“ Seit den Kündigungen nach dem Putschversuch im Juli hätten die Behörden vor allem AKP-freundliche Dozenten eingestellt. Deren Vorlesungen seien im besten Fall eher langweilig, im schlimmsten Fall seien es Propagandaveranstaltungen.

Viele trauen sich nicht zu kommen

„Wir sind so glücklich über diese Seminare“, sagt eine Kommilitonin. „Ich bin gekommen, um unsere Dozenten zu unterstützen, aber auch, weil die Vorlesungen seit deren Kündigung unerträglich geworden sind. Das akademische Niveau ist richtig abgestürzt.“

Aufgrund der 19 fehlenden Dozenten gebe es in ihrer Fakultät keine Wahlfächer mehr, sagt sie. Für die nötigen Semesterstunden müsse sie Veranstaltungen von Professoren besuchen, die oft nur Dienst nach Vorschrift machten, sich strikt an den vorgegebenen Lehrstoff hielten und der AKP-Regierung nach dem Mund redeten. Diskussionen und abweichende Meinungen seien unerwünscht.

Ein weiterer Kommilitone nickt und fügt hinzu: „Viele unserer Freunde würden gerne zu den Solidaritätsseminaren kommen, aber sie trauen sich nicht.“ Gegen die 19 Akademiker wird wegen der Friedenspetition immer noch ermittelt, der Vorwurf: Unterstützung der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Kritiker werfen den Akademikern vor, die Gewalt der PKK in ihrer Petition nicht erwähnt zu haben.

Lordoglu steht hinter seiner Entscheidung, die Friedenspetition im Januar unterschrieben zu haben. Zusammen mit seiner Frau, Mitglied im regierungskritischen Ärzteverband, hatte er zuvor die kurdische Grenzstadt Cizre besucht, wo es zu schweren Gefechten gekommen war. „Ich habe die Petition unterschrieben, weil ich die Stadt nach der Militäroperation gesehen habe. Ich habe mit den Menschen dort gesprochen. Was ich in Cizre erlebt habe, hat mich zutiefst erschüttert“, sagt er. „Widerstand ist wichtig. Wer keinen Widerstand leistet, gibt sich kampflos geschlagen.“

Constanze Letsch, dpa

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