Die Rolle der Psychologie bei den NS-Verbrechen

Von Charlotte Bühler bis Sigmund Freud: Die Liste der Psychologen, die Österreich wegen der Nazis verlassen mussten, ist lang. Und doch spielte die Psychologie eine wichtige Rolle in der NS-Zeit, wie ein neues Forschungsprojekt zeigt.

„Es ist eine traurige Wahrheit, dass der Nationalsozialismus eine Blütezeit der angewandten Psychologie gewesen ist“, so der Psychologe Gerhard Benetka von der Sigmund Freud Privatuniversität (SFU) Wien, der das vom Wissenschaftsfonds FWF geförderte Projekt leitet.

Es stimme zwar, dass etwa Vertreter der von Karl und Charlotte Bühler begründeten Wiener Schule der Psychologie fast vollständig in die Emigration gezwungen wurden. Abseits des akademischen Bereichs kamen Erkenntnisse aus diesen Forschungsgebieten allerdings häufig zur Anwendung - aufgearbeitet sei vieles davon aber noch kaum, so Benetka.

450 Psychologen bei der Wehrmacht

Ob bei der Offiziersauslese in der Wehrmacht, bei Eignungsprüfungen an kriegsgefangenen Arbeitskräften für die Rüstungsindustrie oder bei der Selektion von „aufwandunwürdigen“ Kindern und Jugendlichen: Psychologen stellten sich willfährig in den Dienst der Rassen- und Kriegspolitik, wie Voruntersuchungen im Rahmen des kürzlich begonnenen Projekts zeigen würden.

Benetka: „Das ganze Ausmaß dieses praktischen Einsatzes von psychologischem Wissen ist uns immer noch unbekannt. Allein bei der Deutschen Wehrmacht waren 1942 rund 450 Psychologenstellen eingerichtet.“

Diagnosetest für Elitefürsorge

Die Wissenschaftler interessieren sich nun besonders für Verstrickungen in Verbrechen gegen die Menschheit, also etwa für den Einsatz psychologischer Testverfahren im Kontext der sogenannten Kinder-Euthanasie.

So wurde der am Psychologischen Institut der Uni Wien entwickelte „Bühler-Hetzer-Test“ - ein Diagnoseverfahren zur Prüfung des psychischen Entwicklungsniveaus bis zum Vorschulalter - auch im Krieg in Wien hergestellt und vertrieben. Anhand der Rechnungsbücher lassen sich jene Einrichtungen bestimmen, die den Test ankauften.

Hauptabnehmer war die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV), die damals begonnen hatte, „eine Art von Elitefürsorge zu organisieren“, so der Projektleiter: „Leistungen und Zuwendungen sollten nur denjenigen zugutekommen, die in rassen- bzw. erbbiologischer und eben auch in entwicklungspsychologischer Hinsicht als förderungswürdig eingestuft wurden.“

Der Psychologe Hubert Rohracher bei einer EEG-Untersuchung

Fakultät für Psychologie, Universität Wien

Der Psychologe Hubert Rohracher bei einer EEG-Untersuchung

Beispiel Rohracher

Die Karrierestrategien der historischen Akteurinnen und Akteure bilden einen weiteren Schwerpunkt des Forschungsprojekts. Wie in anderen Disziplinen auch, hat es unter den universitären Vertreterinnen und Vertretern der Psychologie eine Vielfalt von politischen Haltungen und Einstellungen gegeben: von überzeugten Nazis über mehr oder weniger sich aktiv politisch äußernde Opportunistinnen bis hin zu offen als politische Gegner bekannte Professoren.

Interessant sei der Fall Hubert Rohracher: „Von seinen EEG-Untersuchungen hat sich offenbar die Wehrmacht kriegswichtige Resultate erwartet“, sagt Benetka. „Seine Berufung an die Universität Wien zeigt, dass im ‚totalen Krieg‘ die Aussicht auf militärisch brauchbare Forschungsergebnisse wichtiger war als die ideologische Zuverlässigkeit des Lehrstuhlinhabers.“

Rohracher sollte aufgrund seiner antinazistischen Gesinnung im Spätherbst 1940 in ein Konzentrationslager überstellt werden. Vor dem Zugriff der Gestapo rettete er sich, indem er sich freiwillig zum Frontdienst meldete. Nur knapp zwei Jahre später wurde er zum Vorstand eines der wichtigsten psychologischen Institute im deutschsprachigen Raum ernannt, seine Forschungen wurden staatlich gefördert.

Neben NSV-Dokumenten wollen die Forscher auch Aufzeichnungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) oder Materialien aus der „National Archives and Records Administration“ in Washington durchforsten sowie Interviews mit Zeitzeugen analysieren.

science.ORF.at/APA

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