Auf den Spuren der „Zivilgesellschaft“

Spätestens seit der Hilfswelle für Flüchtlinge im Vorjahr ist sie in aller Munde: die Zivilgesellschaft. Aber was ist das genau? Das will eine österreichweite Befragung herausfinden. Erste Ergebnisse zeigen: Sie besteht vor allem aus berufstätigen, gebildeten Frauen.

Keine genauen Definitionen

Menschen, die sich für ihre Demokratie verantwortlich fühlen, sich organisieren - sozial und politisch engagieren, die zwischen Staat, Wirtschaft und Familie tätig werden. Oder: die tun, wozu der Staat nicht willens oder nicht in der Lage ist. Irgendwo da ist sie, die Zivilgesellschaft.

„Dieser Begriff kennt unterschiedlichste Definitionen. Letztlich weiß niemand, was es genau ist und wer die Menschen sind, die sie bilden.“ Eine unbefriedigende Situation für die Sozialwissenschaftlerin Andrea Schaffar, Lehrbeauftragte an der Universität Wien.

Mitte des Jahres hat die Forscherin deshalb gemeinsam mit einer Gruppe Studierender den Verein „Forschungsinstitut für Zivilgesellschaft“ (FiZ) gegründet und sucht nun ehrenamtlich nach eben dieser. „Das ist unser wissenschaftlicher Beitrag zur Zivilgesellschaft, wenn man so will“, sagt Schaffar gegenüber science.ORF.at. Finden möchte sie die zivil engagierte Gesellschaft vor allem unter jenen vielen Menschen, die vor einem Jahr Flüchtlingen österreichweit ihre Hilfe angeboten haben – Kleidung oder Lebensmittel gespendet, das Chaos an den Bahnhöfen bekämpft, Schlafplätze zur Verfügung gestellt oder sich mit Geflüchteten zum Deutschlernen getroffen haben.

„Ehrenamt ist nicht gleich zivilgesellschaftlich“

„Es geht dabei weniger um die Flüchtlingsbewegung als solches. Sie war nur der Anlassfall, mit dem viele engagierte Menschen sichtbar wurden, die davor nicht greifbar waren“, erläutert die Sozialwissenschaftlerin. Nicht zur Zivilgesellschaft im engeren Sinne zählen laut Schaffar Menschen, die sich beispielsweise nur in Sport- oder Musikvereinen engagieren.

„Es ist nicht jede ehrenamtliche Tätigkeit gleichzeitig eine zivilgesellschaftliche. Das heißt, wir fokussieren uns auf Menschen, die in einem nicht-parteipolitisch organisierten Sinne politisch tätig werden. Die aus der intrinsischen Motivation heraus, etwas tun und verändern zu müssen, aktiv werden.“

Ein erstes Zwischenergebnis zeigt jedoch, dass diese Engagements oftmals einhergehen. Denn mehr als die Hälfte der Befragten gab an, täglich oder mindestens einmal in der Woche ehrenamtlich in Vereinen etc. zu arbeiten, knapp 20 Prozent tun dies mindestens einmal im Monat.

Unterschied zu politischer Initiative

Die Sozialwissenschaftlerin will aber auch nicht jedes sozialpolitische Engagement gelten lassen, das sich laut seinem Selbstverständnis dafür einsetzt, die Gesellschaft zu verändern. So wäre eine rechtsextreme Gruppierung wie jene der Identitären laut Schaffar nicht Zivilgesellschaft, da dieser Begriff voraussetze, für alle Menschen zu handeln und niemanden auszuschließen.

Ö1 Sendungshinweis

Diesem Thema widmet sich auch ein Beitrag in der Sendung „Wissen aktuell“ am 11.11. um 13:55 Uhr.

„Im rechtsextremen Spektrum ist aber ganz klar, dass nur für eine bestimmte Gruppierung der Bevölkerung gehandelt wird. Das macht es zu einer politischen Initiative, da es ihr nicht darum geht, die Situation für die gesamte Gesellschaft zu verbessern.“ Sie verortet die Zivilgesellschaft eher im politischen Spektrum der konservativen bis hin zu den politisch stark links orientierten. „Das sind jene, die bisher bereit waren, unsere Fragen zu beantworten und uns ihre Daten zur Verfügung zu stellen“, ergänzt Schaffar. Inwiefern diese tatsächlich die Zivilgesellschaft widerspiegeln, bleibt im Moment noch offen.

Zwischenergebnis trotzt Klischees

Seit dem Start ihrer Befragung im Juni haben Schaffar und ihr Team rund 600 Personen erreicht, die sich zur Zivilgesellschaft zählen. Den ersten Zahlen zufolge findet man diese in allen Altersgruppen, wenngleich die Zwanzig- bis Dreißigjährigen, sowie jene Mitte 40 bis 50 derzeit am stärksten vertreten sind. Viele darunter sind berufstätig (etwa 60 Prozent) und knapp 30 Prozent glauben an keine Religion. „Damit konnten wir bisher zum Beispiel mit dem Klischee aufräumen, dass Zivilgesellschaft nur jene sind, die ‚nichts‘ zu tun haben, das heißt nur Studierende oder Pensionisten“, so Schaffar.

Bei eigenen Beobachtungen auf den Bahnhöfen in Wien zählte die Sozialwissenschaftlerin zudem wesentlich mehr Frauen als Männer. Dieser individuelle, lokale Eindruck scheint sich zunächst mit der ersten Bilanz für ganz Österreich zu bestätigen. Denn 70 Prozent der Befragten sind weiblich. Hinzu kommt, dass die meisten studiert haben (57 Prozent), ein paar noch studieren oder zumindest Matura haben - insgesamt macht diese Gruppe 86 Prozent aus.

Die Schlussfolgerung, die Zivilgesellschaft sei weiblich und gebildet, läge nahe, dafür wäre jedoch zu früh, weiß Schaffar. „Diese Zahlen sind keineswegs repräsentativ. Vielmehr sehen wir jetzt, wo wir noch hingehen und unsere Fragen stellen müssen.“

„Eine lange Suche“

Um die Menschen zu finden, die mit dem Begriff Zivilgesellschaft gemeint sein könnten, geht die Wissenschaftlerin jene Wege, über die sich Freiwillige vor etwa einem Jahr selbst organisiert haben, als tausende Flüchtlinge Österreich erreichten - nämlich über Twitter, Facebook und Co.

„Daneben arbeiten wir mit vielen Institutionen wie zum Beispiel der Caritas und der Akademie für Zivilgesellschaft von der VHS zusammen oder auch mit der BürgermeisterInnen Konferenz in Alpbach, die mit vielen Engagierten zusammenarbeitet. Es ist aber ein sehr langer Prozess, bis man alle unterschiedlichen Ebenen erreicht hat, auf denen Menschen aktiv wurden und bis heute werden.“

Denn nicht alle sind in ihrem Tun gleich präsent. Manche haben auch nur einmal etwas gespendet - auch sie gehören für Schaffar zur Zivilgesellschaft. Bis zum Ende des Jahres werden die Wissenschaftlerin und ihre Studierenden noch weiter engagierte Menschen befragen - bis zu 1.500 möchte sie erreichen.

Ruth Hutsteiner, science.ORF.at

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