„Alle sehen sich als Opfer“

Der Bosnienkrieg ist vor über 20 Jahren zu Ende gegangen, Bosniaken, Kroaten und Serben waren zugleich Täter und Opfer. Heute sehen sich aber alle als letzteres – und haben ihre Sichtweise bereits an die nächste Generation weitergegeben.

Diesen „Kindern des Kriegs“ widmet sich eine Konferenz, die noch bis Samstag an der Universität in Wien stattfindet.

Was erzählt man sich vom Krieg?

Sarajevo - eine serbische Granate schlägt auf dem Marktplatz Markale ein - 68 Personen kommen ums Leben, 144 werden verletzt. Am Berg Trebević bei Sarajevo töten bosnische Muslime Serben und werfen sie in eine Felsspalte - wie viele, ist bis heute unklar.

Wie erinnern sich Menschen in Bosnien Herzegowina an traumatische Ereignisse wie diese während des Bosnienkrieges 1992 - 1995, als Serben, bosnische Muslime und Kroaten gegeneinander kämpften? Ein Krieg mit rund 100.000 Toten und 8000 Vermissten.

Zur Person

Alma Jeftić ist Assistentin an der Internationalen Universität Sarajevo, am Department für Psychologie. Ihren PhD macht sie in Zusammenarbeit mit der Universität Belgrad.

Dieser Frage geht die Alma Jeftić, Psychologin an der Internationalen Universität Sarajevo und Teilnehmerin an der Konferenz in Wien, in ihrer Dissertation nach: „Ich möchte erfahren, ob und wie sich die Erzählungen vor allem von bosnischen Serben und bosnischen Muslimen unterscheiden und wie sie sich in der jeweiligen Position verhalten - also einmal historisch in der Täterposition und einmal als Opfer.“

Opfer-Täter/Täter-Opfer

Im Falle des serbischen Angriffs auf den Marktplatz berichten bosnische Serben, dass die toten Körper drapiert wurden, um Propaganda gegen Serben zu machen und sie dadurch zu vertreiben. Umgekehrt erzählen die von Jeftić befragten bosnischen Muslime über die Vorfälle am Berg Trebević, dass die Bosniaken sich damit nur selbst verteidigten, als sie die Serben töteten. „Meine Untersuchungen mit insgesamt 240 Befragten zeigen, dass sich jeder als Opfer darstellt bzw. versucht, die Tat zu verteidigen - was für den einen Genozid war, war für den anderen ein Akt der Selbstverteidigung und vice versa“, so Jeftić.

Veranstaltungshinweis

Von 3.- 5.11. findet die internationale Konferenz „Wendekinder und Kinder des Krieges“ in Wien statt. Veranstaltet wird sie von der Universität Wien gemeinsam mit der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung. Alma Jeftić präsentiert am 4.11. ihre Forschung.

Die Geschichten und Sichtweisen werden von Nachbarn, Familie oder anderen Bezugsgruppen an die nächste Generation weitergegeben, so die Psychologin. Neben jenen, die den Krieg als junge Erwachsene miterlebt haben, befragt Jeftić auch die zweite Generation, die heute zwischen 15 und 19 Jahren alt ist und den Krieg nicht direkt erlebt hat. „Die meisten kennen zwar nicht die Details. Sie verteilen aber die Rollen der Opfer und Täter wie die Erwachsenen.“

Auch in der Schule erfahren Jugendliche bis heute keinen offenen Diskurs, kritisiert Jeftić. In den ethnisch getrennten Schulen wird nach drei verschiedenen Geschichtsbüchern unterrichtet. Ihnen gemein ist die Tatsache, dass kaum etwas über die Vorfälle während des Bosnienkriegs geschrieben steht. Zurückzuführen ist das letztlich auf den Friedensvertrag von Dayton aus dem Jahr 1995, der die Bevölkerung streng in drei ethnische Gruppen teilt - bosnisch-muslimisch, kroatisch, serbisch. „In den Büchern der Republika Srpska lernen Jugendliche vor allem die Geschichte des Nachbarstaates Serbiens, Bosnien Herzegowina kommt kaum vor. Dasselbe gilt für Schüler bosnisch-kroatischer Schulen“, so Jeftić. Demnach erfahren die Kinder ihren Geburtstort Bosnien Herzegowina nur als zweites Heimatland.

„Geschichten werden bewusst aufrecht erhalten“

Folglich steht „Bosnien“ nicht im Zentrum ihrer Identität, vielmehr definieren sich die meisten über ihre ethnische Zugehörigkeit, sagt Jeftić. Allgemein als Bosnier bezeichnen sich nur wenige. Dahinter stehen zum Teil ökonomische und gesellschaftliche Gründe, so die Psychologin. Bekennt man sich nämlich zu einer Minderheit und entgegen einer der vordefinierten Ethnien, kann das nicht nur Probleme bei der Jobsuche machen, es bringt zudem das Machtverhältnis in dem gemeinsam regierten Staat durcheinander.

Ö1 Sendungshinweis:

Diesem Thema widmet sich auch ein Beitrag in der Sendung „Wissen aktuell“ am 4.11. um 13:55.

Schließlich geht es nur darum, zahlenmäßig nicht verdrängt zu werden: „Deshalb werden diese Geschichten über den Bosnienkrieg auch von manchen bewusst aufrecht erhalten, um keine Macht einzubüßen“, erklärt Jeftić.

Unter dieser strengen Teilung leiden besonders jene, die Eltern unterschiedlicher ethnischer Herkunft haben. „Diese jungen Menschen haben es schwer, Arbeit zu finden und richtig Fuß zu fassen, weil sie nirgends dazu gehören.“ Sie suchen ihren Weg vor allem in europäische Länder wie Deutschland, Österreich oder die skandinavischen Staaten.

Politische Bildung auf eigene Faust

Um den Diskurs zu öffnen, veranstaltet die Wissenschaftlerin jährlich eine Summer School mit dem Titel „Learning from the Past“. Junge Menschen aus Bosnien Herzegowina haben hier die Möglichkeit, ihre individuellen Geschichten und die ihrer Familien auszutauschen. „Es geht darum, Geschichte als etwas Individuelles zu erfahren, das jenseits der ethnischen Zugehörigkeit stattfand.“

Ruth Hutsteiner, science.ORF.at

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