Dem Vertrauten fremd bleiben

Das Heimliche und das Unheimliche, das Vertraute und das Fremde: Diese Gegensätze erforscht die Kulturwissenschaftlerin Tina Parte. In einem Gastbeitrag sucht sie nach Spuren dieser Motive - und wird bei Prärieindianern und vertriebenen Juden fündig.

Tina Parte

IFK

Der Essay von Tina Parte entstand im Umfeld des von ihr konzipierten IFK_Workshops „Languages in Contact: The Danube as a Cultural Space from a Linguistic Perspective“, vom 9.-10.11.2016 in Wien am IFK.

Tina Parte ist Teaching Fellow am UCL German, School of European Languages, Society & Culture (SELCS), University College London.

Stellen Sie sich folgendes Bild vor. Sie sehen ein Tipi, die traditionelle Behausung der nordamerikanischen Prärieindianer, das vor einem Gebäude aus roten Ziegeln steht. Neben dem Gebäude und schräg hinter dem Tipi befindet sich ein schlanker Turm, ebenfalls aus roten Ziegeln. Bei näherer Betrachtung stellen Sie fest, dass das Tipi einer modernen Skulptur ähnelt. Dafür sprechen Material (Stahl) und Form: die zeltartige Verkleidung wirkt wie zwei vom Wind aufgeblasene Segel, die einander zugewandt sind und sich nach oben hin zuspitzen. Das Gebäude dahinter könnte eine Bibliothek sein, den schlanken Turm schmückt vielleicht eine Uhr.

Tatsächlich befinden Sie sich auf dem Campus der Universität von Oklahoma, gegründet 1890 auf Oklahoma Territory, das teils aus Indianern zugewiesenem Gebiet und teils aus dem sogenannten Niemandsland bestand und im Osten direkt an das noch von Indianern bewohnte Indian Territory anschloss. 1907 wurden beide Territorien zum amerikanischen Bundesstaat Oklahoma vereinigt.

Monument nomadischer Kultur

Die monumentale, abstrakte Skulptur „Spirit House“ (1982) des Apache-Künstlers Allan Houser (Haozous auf Apache) erinnert einerseits an die traurige Vergangenheit seines eigenen Stamms nomadischer Indianer, die von der US-Regierung gezwungen wurden, sesshaft zu werden.

Andererseits weist die geschwungene Form der Skulptur trotz der Schwere des Stahls auf Bewegung, Mobilität und ein Weiterleben unter widrigen Umständen hin.

Als neugieriger Besucher vor Ort könnten Sie die Skulptur nicht nur von außen betrachten oder einen Blick nach innen werfen. Sie könnten die Skulptur begehen. Plötzlich verengt sich die Perspektive. Den Rahmen bilden zwei abstrakte schwarze Segel, die zwar den Blick auf den Turm freigeben – ihn schmückt tatsächlich eine Uhr –, das Bibliotheksgebäude jedoch nur noch erahnen lassen. Gleichzeitig fühlen Sie den Schutz aber auch die Verletzlichkeit einer nach zwei Seiten offenen Behausung. Vielleicht hätten Sie das Gefühl, dem Geist einer nomadischen Lebensform näher gekommen zu sein.

Zwangsumsiedelungen: Der tränenreiche Weg

Wenn Sie sich damit zufrieden geben, sowohl die Innensicht als auch die Außensicht des Spirit House, das nur eine temporäre Leihgabe an die Universität von Oklahoma ist, erkundet zu haben, bleibt Ihnen nach wie vor einiges vorenthalten. Sicherlich ist es löblich, dass die Universität von Oklahoma der eingeborenen, nomadischen, dann sesshaft gemachten Indianer gedenken möchte.

Verschwiegen wird dabei jedoch, dass die Prärieindianer im heutigen Bundesstaat Oklahoma keineswegs repräsentativ sind. Vielmehr bleibt im Verborgenen, dass neben den Prärieindianern ein Großteil der Ostküstenindianer seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Oklahoma, damals Indian Territory, lebte und heute noch lebt. Diese wurden aus ihren ursprünglichen Gebieten vertrieben und zwangsumgesiedelt, um letztendlich weißen Siedlern Platz zu machen und der Landspekulation wie dem Goldrausch freie Hand zu lassen.

Als Trail of Tears – tränenreicher Weg – sind die Zwangsumsiedelungen in die amerikanische Geschichte eingegangen. Keine einzige Tafel auf dem Campus der Universität von Oklahoma erinnert an den Trail of Tears, keine einzige Skulptur zeichnet den Trail of Tears nach, der nicht nur aus einem ‚Weg’, also einer Marschroute, bestand und den viele (mehr als ein Viertel der Betroffenen) nicht überlebten. Ähnliches lässt sich über das Leid der schwarzen US-Bevölkerung sagen.

Gute und schlechte Geister

Allan Housers Spirit House, das Geisthaus, beherbergt also nicht nur gute Geister. Schon Sigmund Freud bemerkte in seinem berühmten Aufsatz Das Unheimliche (1919), dass sich das Unheimliche vom Heimlichen, dem ehemals Heimischen, ableiten lässt. Das Haus, das Heim, die Heimat, ließe sich nach Freud argumentieren, schließt immer auch das Unheimliche mit ein, das sich in der Wiederkehr des Vertrauten aber Verdrängten äußert.

Bereits das Wort heimlich weist etymologisch auf diese Zweideutigkeit hin. Das, was dem Heim, der häuslichen Umgebung angehört, also heim-lich ist, erweitert schon im Mittelhochdeutschen seine Bedeutung. Es kann sich auf das fremden Augen entzogene, das Verborgene, das Unauffällige beziehen. Heutzutage kennen wir vor allem letztere Bedeutung. Bei Allan Housers Spirit House kann man sich offensichtlich nicht nur mit dem Gezeigten begnügen, sondern man sollte auch dem Nicht-Gezeigten Raum geben.

Während dem deutschsprachigen Publikum ein Tipi als stereotype, indianische Behausung aus zahlreichen Western-Klassikern bekannt ist, kann eben diese beschränkte Sicht den Blick auf komplexe Zusammenhänge verstellen. Das Tipi steht quasi für die indianische Lebensform schlechthin in der westlichen Populärkultur, wobei übersehen wird, dass man unmöglich von einer indianischen Kultur, vielmehr von indianischen Kulturen sprechen muss.

Wer zwischen den Kulturen vermitteln möchte, muss die vorgefertigten Bilder brechen und die Bruchstellen wie auch Überlappungen zwischen Vertrautem und Fremdem aufzeigen. Schließlich gehört das Tipi zur indianischen Lebensform der Prärieindianer, die aber nur eine von vielen indianischen Lebensformen ist.

Das Problem der Übersetzung

Was allzu stimmig in der Übertragung von einer Kultur in die andere erscheint, muss mit Vorsicht genossen werden. Die wahre Übersetzung, so Walter Benjamin in Die Aufgabe des Übersetzers (1921), solle durchscheinend sein und das Original nicht verdecken. Die ‘Scherben’ in der Übersetzung bedeuten für Benjamin nicht einen Mangel an Übersetzungskunst, sondern stellen die Bruchstücke dar, die die Verpflanzung von einer Sprache in die andere sichtbar machen. Es geht hier aber nicht nur um das Sichtbarmachen.

In den Bruchstücken, den zu übertragenden Worten, schlummert ein unheimliches Potential. Das Potential einer Neugestaltung im Fremden. Deshalb ist Martin Luther für Benjamin ein großer Übersetzer, der die Bibel aus den ‘heiligen’ Sprachen, wie Hebräisch oder Griechisch, ins Deutsche übertragen hat. Luther übersetzte nicht nur von der einen in die andere Sprache, sondern schuf im Deutschen erst die geeignete sprachliche Form, die als Wegbereiter für die Entwicklung des deutschen Standards gilt.

Besudeltes Deutsch

Benjamins Sehnsucht nach der ‘reinen Form’ der Sprache mittels Übertragung in die fremde war spätestens 1933 von den historischen Ereignissen überschattet. Für viele jüdische Exilanten war das Deutsche durch den Nationalsozialismus für immer besudelt und stellte ein verloren gegangenes Mittel des sprachlichen Austauschs dar.

Der jüdische Widerstandskämpfer und Auschwitz-Überlebende Jean Améry (Hans Mayer) empfand die Heimatentwurzelung und Spracherosion im belgischen Exil 1938 als absolut. In seinem Essay Wieviel Heimat braucht der Mensch? (1966) erwähnt er anerkennend die Begegnung mit einem in jiddischer Sprache sprechenden polnischen Juden in Antwerpen, der sprachlich beweglicher und in Wanderschaft und Vertreibung viel geschulter als er selbst zu sein schien.

Jiddisch: Fremdes im Vertrauten

Das Jiddische, eine aus dem Mittelhochdeutschen hervorgegangene westgermanische Sprache, verhält sich anders als das von Sprachpurismus und Sprachnationalismus geplagte und von den Nationalsozialisten missbrauchte Deutsche. Es zeichnet sich durch seine besonders entwickelte Fähigkeit, das Fremde in die eigene Sprache zu integrieren, aus. Lesen Sie folgenden Satz auf Jiddisch, der durch Elemente aus dem Deutschen, Slawischen, Romanischen und Hebräischen angereichert ist. Die deutsche Übersetzung weist deutlich weniger Lehnwörter auf:

Jiddisch: Der (D) zeyde (S) leyent (R) a (D) seyfer (H) shabes (H).

Deutsch: Der (D) Großvater (D) liest (D) ein (D) Buch (D) am (D) Sabbath (H).

Die jiddische Satzstruktur (Subjekt, Verb, Objekt, Zeitangabe) ist jene einer germanischen Sprache, die einzelnen Wörter stammen aus unterschiedlichen Sprachen. Bei dem einfachen Vergleich zwischen jiddischem Original und deutscher Übersetzung zeigt sich deutlich, dass das Fremde erst durch die Abgrenzung zum Vertrauten ins Auge sticht, es aber sehr wohl Platz im Eigenen haben kann - ja sogar können muss.

Tina Parte, University College London

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