Wien ist aus der Nähe betrachtet flüssig

Physiker untersuchen üblicherweise die kleinsten Teilchen der Materie. Doch mit der gleichen Methode lassen sich auch Städte erforschen: Jedes Gebäude ist dann ein Atom, die Stadt eine Art Supermolekül. Wien, so zeigt sich mit der Methode, sieht aus der Nähe ziemlich flüssig aus.

Nein, das ist keine Aussage über die Finanzlage der Stadt. Sondern das Forschungsresultat einer bisher wenig bekannten Disziplin: der Stadtphysik. Einblicke in diese hat Mittwochabend der Materialforscher Franz-Josef Ulm bei einem Vortrag in Wien gegeben.

Städte haben „Materialeigenschaften“

Ulms Vortrag „Urban Physics“ fand Mittwochabend im Rahmen der Vortragsreihe „Viktor Kaplan Lectures“ an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) statt.

Angefangen habe alles mit einem Blick auf die Skyline von Boston, erzählt der Forscher vom Massachusetts Institute of Technology (MIT). Nach einem Tag voller physikalischer Berechnungen über Molekularstrukturen sei er mit einem Kollegen auf die Idee gekommen, diese Modelle auf Städte anzuwenden. "Wenn man jedes Gebäude als physikalisches Teilchen ansieht, findet man rasch heraus, dass Städte ganz charakteristische ‚Materialeigenschaften‘ haben.“

Die Struktur von New York sei zum Beispiel mit jener von Glas vergleichbar, Wien ist von der Ferne betrachtet gasförmig, aus kurzer Distanz erscheine es eher flüssig. Organisch gewachsene Städte wie Wien, Paris und London seien generell flüchtiger als Reißbrettstädte wie Chicago, die unter dem „Städtephysik-Mikroskop“ aussehen wie Kristalle.

Geometrie zeigt Hitzeinseln

„Bis 2050 werden 6,7 Milliarden Menschen in Städten leben, wofür jedes Jahr acht bis neun Städte in der Größe New Yorks gebaut werden müssen“, so Ulm. Mit Kollegen habe er herausgefunden, dass die Geometrie einer Stadt - also die Anordnung der „Gebäude-Atome“ - etwa großen Einfluss darauf hat, wie darin Hitzeinseln entstehen. Durch die globale Erwärmung wird dies ein immer größeres Problem.

Wenn man dies bei der Planung neuer Städte berücksichtigt, kann man sie einerseits lebenswerter machen, andererseits Energiekosten sparen, weil man dann weniger Klimaanlagen benötigt.

Ebenfalls durch den Klimawandel treten starke Stürme viel häufiger auf. Sie belasten Gebäude direkt durch einen hohen Winddruck, und bringen in Küstennähe oft Wasser in die Städte. „Eine sehr geordnete, kristalline Stadt, wird kaum Probleme haben, dass Wasser wieder loszuwerden, aber der Druck, dem ihre Gebäude in einem Sturm ausgesetzt sind, ist wesentlich höher als bei ungeordneten Städten“, so Ulm. Dort wiederum sei das Risiko ungleich größer, dass eingedrungenes Wasser nicht abfließen kann.

science.ORF.at/APA