Karl Polanyi ist aktueller denn je

Wenn die Gesellschaft nur noch Beiwerk des Marktes ist, dann ist sie in ihrer Substanz gefährdet: Das ist keine Analyse der Gegenwart, sondern stammt vom Sozialwissenschaftler Karl Polanyi aus den 1940er Jahren – und ist nun Grundlage einer Konferenz in Linz.

Ab morgen dient Polanyis 1944 erschienenes Hauptwerk „Die große Transformation“ als Diskussionsgrundlage an der Johannes-Kepler-Universität (JKU).

Arbeit, Geld, Natur: Drei „fiktive Waren“

Warum das Buch heute aktueller denn je erscheint, erklärt sich für Brigitte Aulenbacher vom Institut für Soziologie an JKU in den Kernthesen, die darin diskutiert werden.

„Polanyi macht deutlich, dass die Abtrennung der Wirtschaft von der Gesellschaft ein relativ neues Phänomen ist. Und dass die Märkte erstmals in der Kulturgeschichte vor rund 300 Jahren einen eigenständigen Stellenwert erhalten haben“, erklärte die Leiterin der Abteilung für Theoretische Soziologie und Sozialanalysen im Gespräch mit der APA.

Am Beispiel England arbeitete der 1886 in Wien geborene und 1964 in Kanada verstorbene Wirtschaftshistoriker und Sozialwissenschaftler Karl Polanyi eine Kultur- und Wirtschaftsgeschichte des Kapitalismus heraus. Unter anderem analysiert er, wie Arbeit, Geld und Boden - als Synonym für Natur - zu „fiktiven Waren“ wurden, um die herum künstliche Märkte entstanden.

Dies bleibt nicht ohne Konsequenzen, so Aulenbacher: „Seine These ist: Wenn diese Güter, die nie dazu gedacht waren, zu Waren werden, dann werden sie latent oder manifest zerstört. Fiktive Waren können als Waren sozusagen nur gehandelt werden um den Preis ihrer Zerstörung.“

Märkte sind immer von Politik abhängig

Eine Figur, die sich durch das Werk durchzieht, ist das Dreieck zwischen Markt, Staat und Zivilgesellschaft. Polanyi demonstriert, wie das Verhältnis von Markt und Staat immer wieder neu verhandelt wird. Die Idee des selbstregulierenden Marktes entlarvt er als politisches Konstrukt. „Er zeigt auf, dass der selbstregulierende Markt nie Realität geworden ist, sondern der Markt immer von politischer und staatlicher Intervention abhängig ist“, sagte Aulenbacher.

Ein weiteres Thema innerhalb Polanyis Werk, das während des Zweiten Weltkriegs in den USA entstand, ist die Auseinandersetzung mit dem Faschismus. Wirtschaftsliberalisierung und Marktfundamentalismus führen seiner Ansicht nach zu spezifischen Bewegungen innerhalb der Zivilgesellschaft, darunter auch die rechtspopulistische Bewegung.

Was hätte Polanyi zum Wahlsieg des designierten US-Präsidenten Donald Trump gesagt? „Ich glaube, er hätte ihn ein Stück weit erwartet. Polanyi hätte mit Sicherheit gesehen, dass der Nationalismus wieder erstarkt in Zeiten der Wirtschaftsliberalisierung, weil die nationale Grenze einen letzten Halt gibt - und dass dies wieder politikfähig ist.“

Parallelen der Gegenwart

Gleichzeitig habe die Zivilgesellschaft in Zeiten der Expansion der Märkte immer wieder versucht, Schutzwälle aufzubauen - etwa Arbeits- und Sozialrecht. „Polanyi sieht eine ganze Reihe von Gegenmaßnahmen und zivilgesellschaftlicher Auseinandersetzung“, so Aulenbacher, die auch hier einen Bezug zur Gegenwart erkennt.

Beispiele dafür seien seit 2008 verschiedene Protestbewegungen etwa in den arabischen Ländern oder „Occupy Wall Street“. Ab 2014 passierte genau das Umgekehrte: „Das Kippen in das Erstarken des Rechtspopulismus, der zwar schon stark verbreitet war, aber auch ganz neue Dimensionen angenommen hat.“

„Diese Phänomene haben die Diskussion über Polanyis Thesen noch einmal mit ganz neuer Aktualität erfüllt“, ist sich Aulenbacher sicher. Seit den 1990er-Jahren, mit einer deutlichen Entwicklung in Richtung Wirtschaftsliberalisierung, und „verschärft seit 2008“ würde dessen Werk eine wahre Renaissance erleben. „Das war auch der Hintergrund für diese Konferenz. Die Analogien springen einem ins Auge“, so Aulenbacher, nicht ohne einzuschränken: „Man kann natürlich nicht mit einer Theorie, die aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts stammt, Gegenwartsanalyse betreiben.“

science.ORF.at/APA

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