Kollaps im Insektenstaat

Im Ameisenstaat herrscht perfekt organisierte Arbeitsteilung. Doch die Ordnung ist fragil, wie ein genetisches Experiment zeigt: Nimmt man den Ameisen ihren Geruchssinn, bricht im Staat das Chaos aus.

„Superorganismen“ nennen Biologen die Ameisenstaaten bisweilen. Denn so selbstlos und sozial, wie Ameisen ihren Alltag bestreiten, tut das sonst keine Tiergruppe. Eine allem Anschein nach sehr erfolgreiche Strategie: Ameisen existieren seit mindestens 100 Millionen Jahren, sie haben sich bis heute in 15.000 Arten aufgespalten und stellen, sofern man den Menschen nicht mitrechnet, ein Viertel der tierischen Biomasse auf der Erde. Innerhalb der Insekten sind es sogar 40 Prozent.

Wie mutiert man einen Staat?

Weniger gut erforscht ist die Frage, welche Gene Ameisen eigentlich so sozial machen. Das hat einen einfachen Grund: Während etwa die Fruchtfliege, das liebste „Haustier“ der Molekularbiologen, einfach zu züchten ist, sind die Ameisen diesbezüglich recht kapriziös. Neue Mutationen in ihr Erbgut einzufügen, ginge zwar theoretisch, doch die Eier lassen sich kaum ohne Hilfe der Arbeiterinnen aufziehen. Was Studien am Sozialverhalten gleichsam ausschließt: Wenn nicht alle Mitglieder des Ameisenstaates die gleiche Mutation im Erbgut tragen, hat das Ganze wenig Sinn.

Dieses Problem gelöst hat nun Daniel Kronauer. Der Evolutionsbiologe von der The Rockefeller University in New York verwendete für seine Experimente Ameisen der Art Ooceraea biroi. Sie haben, im Gegensatz zu den anderen Arten, keine Königin und pflanzen sich über unbefruchtete Eier fort, die sich dann zu Klonen entwickeln. So könnte man theoretisch genetisch veränderte Ameisensippen herstellen - und genau das ist Kronauer nun gelungen: Er schaltete mit Hilfe der Methode CRISPR/Cas9 ein Gen namens orco aus und züchtete einen ganzen mutierten Ameisenstaat.

Zwei Ameisen in Großaufnahme

APA/dpa

Ohne Geruchssinn werden Ameisen zu Einzelgängern

Orco ist an der Bildung von geruchsempfindlichen Nervenzellen in den Antennen der Ameisen beteiligt. Die Nervenzellen empfangen vor allem Pheromone - hormonähnliche Botenstoffe, mit denen viele Tierarten, Menschen inklusive, kommunizieren. Im Fall der Ameisen ist das ein besonders wichtiger Kommunikationsweg. Sie verfügen über 350 solcher Geruchsrezeptoren, die Fruchtfliege hat zum Beispiel nur 46 davon.

Hektische Egoisten

Die Mutation hatte unübersehbare Auswirkungen: Jungameisen der Art Ooceraea biroi sind rot gefärbt und als solche leicht zu erkennen. Normalerweise bleiben sie im ersten Lebensmonat mehr oder minder unbeweglich im Bau. Die mutierten Jungameisen begannen indes sofort herumzurasen. „Es war ziemlich bizarr, diese Babyameisen herumlaufen zu sehen“, sagt Waring Trible, ein Co-Autor der Studie.

Wie die Forscher schreiben, verloren die Ameisen auch die Fähigkeit, Duftpfade von Artgenossen zu erkennen - woraufhin die Kooperation im Insektenstaat zusammenbrach. Dass dürfte auch daran liegen, dass die Mutation die Hirnentwicklung störte. Knäuel von Nervenfasern, Glomeruli genannt, die für die Verarbeitung von Gerüchen verantwortlich sind, waren schlichtweg nicht vorhanden.

Abgesehen von ihrem unsozialen Verhalten waren die Ameisen auch gesundheitlich nicht in bester Verfassung. Sie starben bereits nach zwei bis drei Monaten, normalerweise leben sie mehr als doppelt so lange.

Auch Säuger riechen das Soziale

Dass der Geruch beim Sozialverhalten von Säugetieren eine wichtige Rolle spielt, ist ebenfalls durch Experimente belegt. 2002 fand die amerikanische Psychologin Jill M. Mateo heraus, dass Erdhörnchen den Verwandtschaftsgrad ihrer Artgenossen quasi erschnüffeln: „Es ist, als ob sie mit ihrer Nase genetische Fingerabdrücke lesen und Stammbäume erstellen könnten“, sagte Mateo damals.

Mittlerweile hat sie nachgewiesen: Ratten können anhand des Körpergeruchs von Menschen sogar erkennen, ob diese verwandt sind oder nicht. Ob wir selbst dazu imstande sind, bleibt umstritten. Die entsprechende Debatte läuft in der Fachwelt unter dem Schlagwort „Achseleffekt“.

Robert Czepel, science.ORF.at

Mehr zu diesem Thema: