Wie „mikro“ kann Aggression sein?

Vorurteile und Rassismus können auch in scheinbar harmlosen, oft gar nicht böse gemeinten Äußerungen stecken. Dafür hat sich der Begriff der Mikroaggression etabliert. Ein Psychologe plädiert nun dafür, den schwammigen Begriff abzuschaffen.

Wenn Sie einen Migranten aufgrund seines Namens oder seines Aussehens fragen, woher er kommt, handelt es sich bereits um eine Mikroaggression - so sehen es zumindest die radikalen Befürworter des sozialpsychologischen Begriffs. Geprägt wurde er bereits 1970 von Chester Pierce, einem US-amerikanischen Psychiater. Richtig modern wurde der Begriff aber erst in den vergangenen Jahren, wiederbelebt hat ihn der US-Psychologe Derald Wing Sue in einem 2007 erschienenen Artikel.

Die Studie

„Microaggressions: Strong Claims, Inadequate Evidence“, Perspectives on Psychological Science, Jänner 2017

Sue beschreibt damit Mikrobeleidigungen oder -entwertungen, die die Identität des Gegenübers nicht ausreichend wertschätzen und denen es an Feinfühligkeit mangelt. Meist stecke nicht einmal eine böse Absicht dahinter bzw. sei die Äußerung eigentlich sogar nett gemeint. Aber in Wahrheit verbergen sich dahinter Vorurteile und unbewusster Rassismus, so die These: Wenn etwa ein weißer Professor zu einem afroamerikanischen Studenten sagt: „Wow, sie sprechen so gewählt!“ bedeute das implizit, dass die meisten afroamerikanischen Studenten nicht so gut reden können.

Für Betroffene sei das besonders gemein, unter anderem wegen der Mehrdeutigkeit. Sie befinden sich in einem Dilemma: Einerseits sind sie unsicher, ob es sich wirklich um ein Vorurteil handelt, und sie wollen nicht unangemessen reagieren. Sagen sie jedoch nichts, könnte dieselbe Person in Zukunft wieder genauso mikroaggressiv agieren.

Moderne Tugenden

Besonders in den USA - dem Land der Political Correctness - boomt der Begriff und findet seinen Niederschlag sogar in Vorschriften. Denn wenn sich viele „Täter“ ihrer unterschwelligen Aggression gar nicht bewusst sind, wie sollen sie sie dann vermeiden? So sollen z.B. Professoren an der University of California, Berkeley den Satz „Amerika ist ein Schmelztiegel“ nicht mehr verwenden. Denn er bedeute, dass ein Weißer die gesellschaftliche Bedeutung von Rassenzugehörigkeit nicht zugeben will. Große US-Firmen, z.B. Coca-Cola, bieten Schulungen an, um Mikroaggressionen zu vermeiden und zu erkennen. 2010 entstand ein eigenes Internetprojekt, das Mikroaggressionen sammelt.

Wie der US-Psychologe Scott O. Lilienfeld in einem aktuellen Review schreibt, sei es tatsächlich schwieriger geworden, Rassismus und Vorurteile in heutigen westlichen Gesellschaften zu erkennen. Aufgrund der öffentlichen Erwartung äußern sich nur mehr die wenigsten offen feindlich gegenüber Randgruppen, aber Untersuchungen zeigen, dass noch immer genug unterschwellige Vorurteile vorhanden sind. Mit dem Konzept der Mikroaggressionen versuchte man, das subtilere Geschehen zu fassen.

In den letzten Jahren wurde nicht nur der Begriff selbst immer moderner, auch die Kritik an ihm wurde lauter. Besonders die sozialen und gesellschaftlichen Folgen wurden dabei kritisiert - die Leute dürften nicht mehr sagen, was sie denken. Das führe zu Meinungskonformismus und Tugendterror, wie vor allem von Stimmen rechts der politischen Mitte zu hören ist.

Vager Begriff

Die aktuelle Kritik Lilienfelds zielt jedoch in eine andere Richtung. Ihm geht es nicht um die gesellschaftlichen Folgen, sondern um den Begriff bzw. das wissenschaftliche Konzept dahinter. Vor allem dessen Grundlagen stehen auf recht schwachen Beinen, meint er nach der Überprüfung der verfügbaren wissenschaftlichen Literatur zum Thema.

In ihrer Publikation von 2007 haben Sue und seine Kollegen die Mikroaggression in neun Subtypen unterteilt, darunter z.B. „fremd im eigenen Land“, „der Mythos der Meritokratie“ und „die Unterstellung von Kriminalität“. Laut Lilienfeld stammen die Kategorien aber nicht aus einer systematischen Datenerfassung, sondern wurden mehr oder weniger auf dem Reißbrett entworfen. Lilienfeld bezeichnet das als eine Art „Lehnstuhl-Taxonomie“. Abgesehen davon, dass sie nicht auf empirischen Beobachtungen beruhen, sprechen andere Grundannahmen den Mikroaggressionen unverhältnismäßig viel Bedeutung zu: Ihre subtilen Wirkungen sollen für Betroffene schlimmer sein als offener Hass.

Generell sei der Begriff sehr vage, im Extremfall sogar völlig subjektiv, schreibt Lilienfeld. So liegt laut Sue et al. Mikroaggression im Auge des Betrachters. „Wie aber kann etwas als aggressiv gelten, wenn es nicht ein gewisses Maß an Konsens darüber gibt, und zwar unter unabhängigen Beobachtern?“ fragt nun Lilienfeld.

Wo ist das Fundament?

Durch seine Schwammigkeit könne man mit dem Begriff machen, was man will. Wie weit das reicht, beschreibt er anhand eines Beispiels aus dem US-Wahlkampf 2008. Bei einer Veranstaltung sagte eine weiße Frau zum damaligen Präsidentschaftskandidaten John McCain: „Ich kann Obama nicht vertrauen, er ist ein Araber.“ McCain antwortete: „Obama ist ein anständiger Familienmann und Bürger …“ Laut einer Analyse von Sue war die Antwort zwar gut gemeint, aber eine grobe Mikroaggression. Denn sie unterstelle, dass die meisten Araber keine anständigen Familienmenschen sind. Laut Lilienfeld ließe sich - egal, was McCain geantwortet hätte - im Nachhinein immer eine Lesart finden, die gegenüber irgendeiner Gruppe mikroaggressiv ist.

Das Modell ist nicht nur an sich vage, es gebe auch keine Verknüpfung mit anderen psychologischen Theorien, z.B. zur Persönlichkeitsforschung. Denn ob jemand etwas als beleidigend empfindet, könnte auch etwas mit seinen Eigenschaften zu tun haben, meint Lilienfeld. Zu den behaupteten psychischen und gesundheitlichen Auswirkungen von Mikroaggressionen gebe es ebenfalls wenig Handfestes.

Lilienfeld betont, dass die Idee der Mikroaggression grundsätzlich nützlich war. Sie habe ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass es subtile und versteckte Formen von Ausgrenzung gibt. Aber als wissenschaftliches Konzept sei sie völlig unterentwickelt. Seinen umfassenden Review schließt er mit 18 Anregungen, um die wissenschaftliche Arbeit zu dem gesellschaftlichen Phänomen voranzubringen. Den Begriff der Mikroaggression selbst würde er aber am liebsten abschaffen. Alle Trainingsprogramme und Verbotslisten würde er genauso gern auf Eis legen - zumindest bis mehr seriöse Daten vorhanden sind.

Privilegierte Skepsis

Mittlerweile hat Sue - also jener Psychologe, der den Begriff der Mikroaggression so bekannt gemacht hat - auf die Kritik von Lilienfeld reagiert. An sich hält er die Argumente seines Kritikers für überzeugend, zumindest aus wissenschaftlicher Sicht. Aber, so sein Einwand, Wissenschaft ist nicht alles. Nicht alle realen Erfahrungen marginalisierter Gruppen ließen sich damit erfassen. Und nur die Privilegierten können sich laut Sue den Luxus des Beweises leisten.

„Wendet man das Prinzip des Skeptizismus auf die Studien zu Mikroaggressionen an, könnte man unabsichtlich die gelebte Erfahrung von Randgruppen ausblenden und negieren“, schreibt Sue. Mit anderen Worten: Lilienfelds Kritik ist mikroaggressiv. Dass man ihm das vorwerfen könnte, hat Lilienfeld in seinem Review übrigens schon selbst vorhergesehen.

Eva Obermüller, science.ORF.at

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