Anabolika gehörten auch in der BRD zum Alltag

Doping mit Anabolika hat nicht nur in der DDR, sondern auch in der BRD zum Alltag gehört. In den 70er und 80er Jahren hatte der Missbrauch Hochkonjunktur, wie eine neue umfangreiche Studie zeigt.

Dianabol war die Modedroge, aber auch viele andere Muskelmacher standen bei westdeutschen Leichtathleten im Kalten Krieg der Sportsysteme auf dem Tagesmenü. Dope gab’s auf Rezept, die Krankenkassen zahlten. Ehrgeizige Funktionäre, verbissene Trainer, gewissenlose Ärzte und arglose Apotheker haben die Sportler vor allem in den 1970er und 1980er Jahren beim Doping mit anabolen Steroiden aktiv unterstützt oder beraten. Das ist eine der Schlussfolgerungen in der Dissertation des Wissenschaftlers Simon Krivec, die an diesem Montag erstmals als Buch veröffentlicht wurde.

Aber kein flächendeckendes Phänomen

Von den Athleten sei die Konkurrenz zur Sportgroßmacht DDR „natürlich häufig als Ursache für ihren Anabolika-Missbrauch genannt worden“, sagte der 29-Jährige der Deutschen Presse-Agentur, räumte aber auch ein: „Flächendeckendes Doping - das würde zu weit gehen. Aber dass anabole Steroide im Alltag der Athleten immer präsent waren, das kann man schon so sagen.“

Die Anwendung anaboler-androgener Steroide (AAS) sei in Westdeutschland zwar nicht wie in der DDR „staatlich strukturiert erfolgt“, aber dennoch „nicht auf wenige Einzelfälle beschränkt gewesen“, stellte der Apotheker aus Krefeld in seiner Schlussbetrachtung fest.

Von 61 männlichen Leichtathleten, die auf seine Anfragen geantwortet haben, hätten 31 Sportler die Anwendung von Anabolika zugegeben. „Dass viele so offen geantwortet haben, das hat mich überrascht.“ Und: „Da ist noch eine hohe Dunkelziffer in beide Richtungen möglich.“

„Bis oben hin voll“

Aus dem Schatten der Anonymität wagten sich sechs ehemalige Athleten: die Diskuswerfer Alwin Wagner, Klaus-Peter Hennig und Hein-Direck Neu, Lutz Caspers (Hammerwurf), Traugott Glöckler und Gerd Steines (beide Kugelstoßen). Zeitzeuge Wagner hat zwischen 1977 und 1988 nach eigenen Angaben insgesamt fünf verschiedene Medikamente geschluckt: Dianabol, Stromba, Fortabol, Megagrisevit und Testosteron.

Der heute 66-Jährige erzählte dem Wissenschaftler, dass Dopingtests zumindest bei nationalen Wettkämpfen damals kein Risiko darstellten. „So weiß ich noch, dass bei einer unangekündigten Dopingkontrolle ein Teamkamerad auf mich zukam und meinte, er sei ‚bis oben hin voll‘. Trotzdem gestand er mir einige Wochen später, dass dieser Test negativ ausgefallen war.“ Von den Funktionären, sagt Wagner, „wurde die Einnahme trotz Verbotes toleriert“.

„Zum eigenen Gebrauch“

Drei spezielle Fallbeispiele widmet Krivec den Mittätern im weißen Kittel: Wie schon andere Experten vor ihm belegt er die aktive Rolle der berüchtigten Sportmediziner Joseph Keul und Armin Klümper beim Doping von Spitzenathleten. Manfred Steinbach, ehemaliger Leichtathlet, später DLV-Funktionär und Medizinprofessor, habe 1967 gleich 500 Dianabol-Tabletten bestellt und verordnet. Auf dem Rezept sei „ad u. prop.“ („Zum eigenen Gebrauch“) vermerkt gewesen.

In einem (anonymen) Fall könne „zweifelsfrei von einer Dauertherapie“ mit Dianabol gesprochen werden, sagte Krivec, der im Dezember 2016 an der Hamburger Uni mit summa cum laude promovierte. Ein Werfer aus dem A-Kader habe die empfohlene Tagesdosis von fünf Milligramm „in Spitzen um das 10-Fache gesteigert“. Kugelstoßer Steines schildert sogar, dass Klümper „die Anwendung von anabolen Steroiden bis zu einer Tagesdosis von 100 mg für unbedenklich“ gehalten habe.

Kein Unrechtsbewusstsein

Besonders beeindruckend in dem 345-seitigen Buch sind die zwölf Fallstudien, in denen die ehemaligen Sportler der nationalen Spitzenklasse offen Auskunft geben: über ihren Anabolika-Konsum, Dosierungen, Ermunterungen durch Trainer und Funktionäre und über den „Rat“ von Ärzten, die Doping oft auf Kassenrezept verordneten.

Ende der 70er Jahre „wurde mir von den Ärzten gesagt, dass man die Anabolika rund 14 Tage vor dem Wettkampf absetzen müsse, um keinen positiven Dopingtest zu riskieren“, berichtete Wagner. „Diese Frist wurde dann im Laufe der Jahre auf zehn Tage heruntergeschraubt“, die Athleten wurden ermuntert zu schlucken: „Das Testosteron könne bis einen Tag vor dem Wettkampf bedenkenlos angewendet werden.“

Ein Unrechtsbewusstsein „war zu damaliger Zeit bei vielen nicht vorhanden - das kam eher im Rückblick“, berichtete Krivec, „teilweise auch deshalb, weil es in den 60er Jahren noch nicht verboten war“. Erst 1974 nahm die Medizinische Kommission des IOC die AAS in ihre Liste der verbotenen Substanzen auf; erstmals auf Anabolika getestet wurde bei den Olympischen Spielen 1976 in Montreal.

Ralf Jarkowski, dpa

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