Wie Löwen zu Menschenfressern werden

Die „Menschenfresser von Tsavo“ haben Hollywood zu vier Kinofilmen inspiriert. Nun nimmt sich auch die Wissenschaft des Stoffes an - und kommt zu einer überraschenden Diagnose: Zahnweh machte die Löwen zu Bestien.

1907 brachte der britische Colonel John Henry Patterson das Grauen mit dramatischen Worten zu Papier: „Ich habe eine lebendige Erinnerung an jene Nacht: Die Tiere packten einen Mann und zerrten ihn in die Nähe meines Camps, wo sie ihn verschlangen. Die Luft war erfüllt von ihrem Brummen. Ich konnte das Knacken der Knochen deutlich hören …“

Widerlegung einer „Erinnerung“

Was Patterson in seinem Buch „The Man-eaters of Tsavo“ beschreibt, sind seine Erlebnisse in Kenia, wo er einige Jahre zuvor als Aufseher für die British East Africa Company tätig gewesen war. Damals terrorisierten zwei menschenfressende Löwen die ansässige Bevölkerung, als Opfer suchten sie sich vor allem Arbeiter, die mit dem Bau einer Eisenbahnstrecke betrauten waren. 135 insgesamt, notierte Patterson.

„Da hat er zweifelsohne übertrieben“, sagt Bruce Patterson (mit dem britischen Soldaten nicht verwandt) vom Field Museum of Natural History in Chicago. „Patterson hat die beiden Löwen 1898 und 1991 erlegt. Wenn man sich seine Fotos ansieht, dann fällt auf: Er posierte immer hinter den Löwen sitzend - um sie möglichst groß erscheinen zu lassen.“

Wie der amerikanische Zoologe vor ein paar Jahren mit Hilfe von Isotopenanalysen nachwies, hatten die beiden Großkatzen wohl „nur“ 35 Menschen getötet. Warum sie das taten, war bis vor kurzem rätselhaft. Denn Löwen sind normalerweise vorsichtig, vor allem untertags trauen sie sich nicht in die Nähe von Menschen.

Zwei ausgestopfte Löwen im Museum

John Weinstein, The Field Museum

Präparierte Menschenfresser: Die beiden Löwen sind heute Field Museum zu sehen

Nun hat Bruce Patterson eine Studie vorgelegt, die auch diese Frage beantwortet. Wie er mit seiner Kollegin Larisa DeSantis im Fachblatt „Scientific Reports“ schreibt, sind auf den Zähnen der beiden Löwen keinerlei Spuren von Abnützung zu erkennen. „Sie sehen aus wie die Zähne von Löwen aus dem Zoo“, sagt Patterson.

Auslöser: Zahnweh

Schluss der Forscher: Die beiden Menschenfresser ernährten sich ausschließlich von Fleisch. Knochen zählten mit Sicherheit nicht zu ihrer Nahrung - die Aufzeichnungen John Henry Pattersons waren also auch in dieser Hinsicht nicht ganz wahrheitsgemäß.

Dem Verkauf des Buches dürften die Übertreibungen nicht geschadet haben. Selbst Hollywood ließ sich von den Stoff inspirieren: Die Geschichte wurde insgesamt vier Mal verfilmt, unter anderem in „The Ghost and The Darkness“ mit Michael Douglas und Val Kilmer in den Hauptrollen.

Dass die Löwen von Tsavo zu Menschenfressern wurden, hatte laut den beiden Forschern pathologische Ursachen. Die beiden Tiere litten offenbar an einer schmerzhaften Zahnentzündung, die es ihnen unmöglich machte, Knochen zu zerbeißen oder schwere Tiere zu erlegen. „Wenn ein Löwe einen Büffel nicht mit seinem Biss töten kann, dann ist es für ihn besser gar nicht anzugreifen. Ansonsten läuft er Gefahr, selbst vom Büffel getötet zu werden“, sagt Patterson.

Angriff als letzter Ausweg

Derlei fatale Verhaltensänderungen unter Löwen beschränken sich nicht nur auf historische Schilderungen. 2009 berichtete der amerikanische Biologe Craig Packer im „Natural History Magazine“, dass man allein in Tansania pro Jahr bis zu 140 Angriffe von Löwen zähle - die Dunkelziffer liege wohl doppelt so hoch.

Das hat vor allem ökologische Ursachen. Die Zerstörung des Lebensraumes und der Schwund der Beutetiere machen den Großkatzen schwer zu schaffen. Wenn sie angreifen, dann aus dem Grund, weil sie dem Verhungern nahe sind, so Patterson. „Die Jagd auf Menschen ist ein Akt der Verzweiflung.“

Robert Czepel, science.ORF.at

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