„Flüchtling“: Vom Beruf zur Diagnose

Flucht kann traumatisieren, Flüchtlinge brauchen deshalb psychologische Betreuung: Diese Einsicht hat sich in Österreich erst mit der Ungarn-Krise von 1956 durchgesetzt, wie ein neues Forschungsprojekt zeigt – das auch Ratschläge für heute parat hat.

Die Wissenschaftshistorikerin Katja Geiger vom IFK | Kunstuniversität Linz und ihr Kollege Thomas Mayer von der Sigmund Freud Universität Wien haben darin den Umgang der Wiener Psychiatrie mit zwei Flüchtlingswellen untersucht: jene nach dem Zweiten Weltkrieg und jene nach dem ungarischen Volksaufstand 1956.

Vorreiter Schweiz

„Nach 1945 hat es in Europa Millionen von Flüchtlingen gegeben, aber noch keine theoretischen Überlegungen dazu, wie psychische Erkrankungen nach Flucht oder Vertreibung entstehen können“, erklärt Geiger gegenüber science.ORF.at. Eine der Pionierinnen auf dem Gebiet war die Schweizer Psychiaterin und Psychoanalytikerin Maria Pfister Ammende. Als Vertreterin der Psychohygiene-Bewegung arbeitete sie bereits ab 1943 systematisch zur Psychotherapie von Menschen, die als Flüchtlinge in die Schweiz kamen.

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 26.5., 13:55 Uhr.

In Wien fielen ihre Schriften und Erfahrungen auf fruchtbaren Boden. Im Februar 1957 – wenige Monate, nachdem 200.000 Ungarn und Ungarinnen nach Österreich geflohen waren – veröffentlichten die Psychiater Hans Hoff, Harald Leupold-Löwenthal und Hans Strotzka einen ersten Artikel, der sich mit dem Thema wissenschaftlich auseinandersetzte.

Ungarische Flüchtlinge an der Grenze zu Österreich am 22. November 1956

AP

Ungarische Flüchtlinge an der Grenze zu Österreich am 22. November 1956

1956 erstmals als eigenständige Gruppe wahrgenommen

„Flucht war nach 1945 noch nicht als krankmachender Faktor verankert. Das ändert sich mit dem Artikel von 1957 und hatte von nun an Einfluss auf das Erstgespräch von Patienten mit einem Psychiater“, erklärt Geiger. Gemeinsam mit Thomas Mayer hat sie tausende von Krankenakten der Wiener Universitätsklinik für Psychiatrie aus den Jahren 1945-48 sowie 1956-58 durchforstet.

Schon beim Vergleich der Deckblätter der Akten zeigt sich die Veränderung plastisch. In beiden Perioden war der Begriff „Flüchtling“ gut sichtbar vermerkt. Während er nach 1945 aber unter dem Feld „Beruf“ stand, wechselte er nach 1956 in die Kategorie „Diagnose“. „Das heißt, dass Flüchtlinge von nun an als eigenständige Gruppe mit gemeinsamen Krankheitsfaktoren und Neigung etwa zu schwerer Depression und Suizid wahrgenommen wurden“, so Geiger.

Ambulanzen für Ungarn-Flüchtlinge

Und das hatte auch konkrete therapeutische Konsequenzen. „Während die Psychiatrie bis dahin vor allem körperliche Schocktherapien – Elektro- oder Insulinschock, dazu die Malaria-Fieber-Therapie – angewendet hat, wurde nun ein psychotherapeutischer Modellversuch eingerichtet“, sagt Thomas Mayer. „An der Uniklinik Wien und im Flüchtlingslager Traiskirchen konnten Ungarn-Flüchtlinge entsprechende Ambulanzen aufsuchen. Für unbegleitete Minderjährige wurde ein eigener psychotherapeutischer Dienst eingerichtet.“

Dieser war tiefenpsychologisch-psychoanalytisch ausgerichtet, die Patienten besuchten ihn mindestens einmal pro Woche, im Schnitt zwei Jahre lang. Das psychologische Personal dafür wurde aus den Reihen der ungarischen Flüchtlinge selbst rekrutiert – denn für die „Redekur“ der Psychoanalyse bedarf es der Muttersprache.

Das Bundesheer an der Grenze zu Ungarn, Ende Oktober 1956

APA

Das junge österreichische Bundesheer an der Grenze zu Ungarn

Eine wichtige Rolle dabei hat die bis heute als Psychoanalytikerin tätige Vera Ligeti gespielt, die selbst aus Ungarn geflohen ist und von Hans Strotzka für die Betreuung ihrer Landsleute gewonnen wurde. „Der Prozess war ihr zufolge auch für die Psychoanalyse sehr lehrreich“, erzählt Geiger. „Je nach psychologischem Problem haben die Patienten mehr die eine oder mehr die andere Sprache benutzt. Tendenziell aber sprachen sie im Lauf der Therapie und ihren allgemein wachsenden Sprachkenntnissen immer mehr Deutsch.“

Versuch, Tiefenpsychologie zu etablieren

Federführend bei der Einrichtung des Modellversuchs war der Sozialpsychiater Hans Strotzka. „Er wollte die Sozialpsychiatrie und Tiefenpsychologie damit als wissenschaftliche Disziplinen in Österreich etablieren“, sagt Thomas Mayer. Und das ist eine historische Pointe. Denn während die Psychoanalyse und ihre Vertreter 1938 von den Nazis in die Flucht getrieben wurden, waren es gerade Flüchtlinge, die ihre Rückkehr erleichterten.

Konferenz

„Unsichtbare Dritte: Übersetzungs-praktiken in Psychotherapie und Psychoanalyse“: 17.-19. Mai 2017 am IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien

Dazu gehört der damalige Vorstand der Wiener Uniklinik für Psychiatrie, Hans Hoff, der aus den USA remigrierte und eine Vielzahl an psychiatrischen Methoden zuließ und förderte, darunter die psychohygienische Betreuung der Ungarn-Flüchtlinge an der Wiener Universitätsklinik und in Traiskirchen.

Laut verschiedenen Quellen seien die tiefenpsychologischen Methoden sehr erfolgreich gewesen. So hätte es im Vergleich zu anderen Gruppen von Ungarn-Flüchtlingen in Europa in Wien eine geringere Rate an Suiziden gegeben.

Vertreter des Roten Kreuzes winken ungarischen Flüchtlingen auf österreichischer Seite

AP

Vertreter des Roten Kreuzes winken ungarischen Flüchtlingen auf österreichischer Seite

Aha-Effekt für die Gegenwart

Ob sich aus der Beschäftigung mit den beiden historischen Flüchtlingswellen etwas für die Gegenwart lernen lässt? „Der Aha-Effekt ist schon erstaunlich, wenn man heute den Artikel von 1957 liest. Hoff, Leupold-Löwenthal und Strotzka beschreiben darin eine Welle der Hilfsbereitschaft, die schnell in Ablehnung umgeschlagen ist“, erzählt Geiger.

Die drei Wiener Psychiater hatten dafür eine Erklärung parat, die auch 60 Jahre später aktuell erscheint: „Die überwältigende emotionale Zuwendung der österreichischen Bevölkerung zu den Flüchtlingen beinhaltet immanent die unbewusste Erwartung, dass diese Menschengruppe das Verhalten armer hilfloser Kinder zeigen müsste. Wenn das nicht der Fall ist, wenn Flüchtlinge im gleichen Espresso verkehren, im gleichen Geschäft unter Umständen einmal etwas Besseres kaufen, spontan in anderer Weise handeln, als es dieser Rollenerwartung entspricht, so entsteht zwangsläufig [eine] fast gesetzmäßige Aggression.“

Und auch ihr Ratschlag wirkt frisch: „Die einzig wirksame Therapie und Vorbeugung gegen die Flüchtlingsparanoia liegt im menschlichen Empfang und im Aufgenommenwerden in einer schützenden Gesellschaft. Dies bedeutet, dass freie, lustvolle Arbeit, Verdienst sowie Schutz- und Aufbaumöglichkeit für Familien und andere Intimgruppen geboten wird.“

Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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