Artenschutz: Was ist eine Art?

Mehr als die Hälfte aller 350 bekannten Schildkrötenarten ist vom Aussterben bedroht. Das liegt nicht nur an schwindenden Lebensräumen, sondern auch an der Biologie: Denn die ist sich uneins, was genau eine Art eigentlich ist.

Fehlende Richtlinien sind ein Grund dafür, dass Schutzmaßnahmen nur begrenzt helfen, meint der Schildkrötenexperte Peter Praschag.

Mehr als 120 extrem gefährdete Arten haben in seinem Grazer Schildkrötenrefugium eine neue Heimat gefunden. Viele davon sind in freier Wildbahn nicht mehr zu finden. Der Schildkrötenexperte betreut auch Artenschutzprojekte auf drei Kontinenten.

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell am 1.6. um 13:55

Abgesehen von der Zerstörung des Lebensraums der Reptilien und ihrer Bejagung kritisiert Praschag: „Es gibt 30 verschiedene Definitionen, was eine Art überhaupt ist. Solange es hier keine klaren Regeln gibt, sind viele Artenschutzmaßnahmen zum Scheitern verurteilt. Denn um eine Art zu schützen, muss ich sie vorher exakt bestimmen.“

Zwischen Chaos und Willkür

Unterstützung bekommt Praschag nun von einem australischen Forscherteam. Stephen Garnett und Les Christidis kommen in ihrer aktuellen Arbeit zum selben Schluss: „Die chaotischen Zustände in der Artbestimmung richten großen Schaden an.“

Peter Praschag mit seiner Alligatorgeier-Schildkröte

ORF

Peter Praschag mit einer Alligatorgeier-Schildkröte

Die Anarchie in der Taxonomie beschädige den Ruf der Wissenschaft, verhindere effektive, globale Maßnahmen zur Erhaltung bestimmter Arten und koste letztendlich auch der Gesellschaft viel Geld. Die Forscher verlangen die Definition einheitlicher Kriterien und fordern, dass die Internationale Organisation für Biologische Wissenschaften (IUBS) weltweit gültige Richtlinien vorgibt, was eine Art ausmacht und wie sie zu bestimmen ist.

Akademischer Eifer vs. Artenschutz

Peter Praschag unterstreicht mit einer aktuellen Studie seine Kritik – und stößt ins selbe Horn wie die australischen Forscher. Praschag hat die Gattung einer amerikanischen Höckerschildkrötenart analysiert. Genetische und morphologische Untersuchungen zeigten, dass viele als Unter- oder gar Hauptarten beschrieben werden, die eigentlich alle zur selben Art gehören.

„Es gibt diese Willkür in der Artbestimmung aber auch, weil es einen regelrechten Publikationsdruck in der Wissenschaft gibt“, meint Praschag. „Beschreibe ich eine Hauptart, gibt das mehr Anerkennung, ich kann in angeseheneren Journalen publizieren, mehr Geld für die Forschung lukrieren. So entsteht ein richtiger Artenwildwuchs, der für die Schutz- und Erhaltungsmaßnahmen geradezu kontraproduktiv ist“. Exakte Artbestimmung sei aber Grundvoraussetzung für alle Artenschutzmaßnahmen.

Massen-CT in Berlin

„Nur wenn eine Art exakt bestimmt und bekannt ist, kann sie effektiv geschützt werden“, so Praschag. Und das beinhaltet auch das Beschreiten ungewöhnlicher, aber moderner Wege, wie die Anreise zu einem Schildkröten-CT in Berlin. Gemeinsam mit seiner Frau, der Tierärztin Shannon DiRuzzo und Richard Gemel, ehemals Leiter der Herpetologischen Sammlung des Naturhistorischen Museums Wien geht es zum leistungsstärksten Computertomographen für Tiere Europas, ans Leibnitz Institut für Zoo- und Wildtierforschung.

Schildkrötenkopf auf CT-Bild

LBI Berlin Guido Fritsch

Schildkrötenkopf auf CT-Bild

Mit im Reisegepäck: 15 lebendige Weichschildkröten, drei in Alkohol eingelegte Sammlungsstücke aus dem NHM. Der Blick ins Innere der Schildkröten erlaubt die exakte Darstellung von Skelett, Muskulatur und Organen. Ganz wesentliche Erkenntnisse für die Bestimmung, denn viele Arten sind äußerlich nicht zu unterscheiden. Die Ergebnisse waren überraschend: So entpuppte sich die Nubische Klapprandweichschildkröte, die Richard Gemel „durchleuchten“ ließ, letztlich als Senegalweichschildkröte - eine andere Art. Die Datenbank des Naturhistorischen Museums muss korrigiert werden.

Extrem bedrohte Unterart

Peter Praschags hatte eine Knorpelweichschildkröte aus Südostasien mit im Gepäck. Im Dreiländereck Indien, Myanmar und Bangladesh gibt es davon eine sehr große Population. Die Kombination von genetischer Analyse und Computer-Tomographie zeigte aber, was Praschag schon vermutet hatte:

„Und zwar, dass auf kleinen Inseln eine völlig verschiedene, extrem bedrohte Unterart existiert. Das ist enorm wichtig, denn nun kann ich beweisen, dass es eine schützenswerte, vom Aussterben bedrohte Unterart ist, die nur in einer begrenzten Region vorkommt und gezielt entsprechende Schutzmaßnahmen einleiten," so Praschag. Diese modernen High-Tech-Untersuchungsmethoden sind für den Schildkrötenexperten der Grundstein für den Artenschutz der Zukunft.

Einblick ins Erbgut

Auch der Einsatz von Genetik könnte mithelfen, Schildkröten vor dem Aussterben zu bewahren. Zum Beispiel die extrem bedrohte Mojave-Wüstengopherschildkröte. Einem Team der Arizona State University’s School of Science gelang es, Teile des Genoms dieser urtümlichen Wüstenbewohner zu sequenzieren.

US-Army-Helikopter verfrachtet die Tiere aus der Gefahrenzone

US Army Marine-Corps 29Palms

US-Army-Helikopter verfrachtet die Tiere aus der Gefahrenzone

Davon erhofft sich das Forscherteam wichtige Aufschlüsse über die Art und wie man sie schützen kann - sowie Erkenntnisse für die Medizin. Denn die Schildkröten können Erstaunliches, wonach der Mensch schon immer strebt: Sie altern extrem langsam und können lange Zeit ohne Wasser und Nahrung auskommen. Doch nicht nur die Genetik verspricht Hilfe, sondern auch das Militär.

Mit dem Helikopter in die Freiheit

Diese Wüstenschildkrötenart ist auch dem österreichischen Forscherpaar Peter Praschag und Shannon DiRuzzo seit Jahren vertraut. Denn nicht nur schwindender Lebensraum, eingeschleppte, mediterrane Gräser und Solaranlagen bedrohen den Bestand des Reptils in der Mojave-Wüste.

Shannon DiRuzzo untersucht eine Wüstenschildkröte

US Army Marine-Corps 29Palms

Shannon DiRuzzo untersucht eine Wüstenschildkröte

Dort ist auch ein legendäres Marine-Corps der US-Army stationiert: „Twentynine Palms“. Um die extrem bedrohte Art durch militärische Manöver nicht endgültig auszurotten, arbeitet ein internationales Team renommierter Schildkrötenexperten an umfassenden Schutzmaßnahmen. Mit dabei, wenn die Schildkröten per Marine-Hubschrauber in sichere Zonen geflogen werden: Peter Praschag und seine Frau.

US-Marines und Artenschutz

In einem Ganzjahres-Monitoring ist Shannon DiRuzzo für alle medizinischen Belange zuständig, von der Vermessung, der Blutdiagnostik, dem Abklären von Krankheiten bis zum Speichelabstrich. Peter Praschag entwickelt Erhaltungsmaßnahmen im Auftrag der US-Marines und ist für die Jungtiere zuständig.

Die Schildkröten werden von einer geheimnisvollen Krankheit geplagt. Mykoplasmen greifen das Immunsystem an - da erwartet sich Praschag wichtige Erkenntnisse von der Genom-Sequenzierung des Teams von der Arizona State University. „Es ist ein Rätsel, warum manche Tiere anfällig sind, andere geradezu immun. Da wissen wir einfach noch zu wenig, doch das ändert sich vielleicht, wenn uns der Blick ins Erbgut Stoffwechselvorgänge verständlich macht.“

Hüter der Biodiversität

Die Wüstengopher-Schildkröte spielt aber auch eine enorm wichtige Rolle in der Erhaltung der Biodiversität der Mojave-Wüste. Seit Jahrmillionen angepasst ist sie das einzige Tier, das im sandigen Boden Tunnel zu graben vermag.

Die Tunnel der Wüstenschildkröte sind Zuflucht für andere Tiere

Shannon DiRuzzo

Die Tunnel der Wüstenschildkröte sind Zuflucht für andere Tiere

Die sind bis zu zwölf Meter lang und liegen drei Meter unter der Erde. Das schafft Lebensraum für mehr als 150 andere Arten. Wüstenmäuse, Füchse, Grillen, Käfer und Leguane – sie alle profitieren von den Baukünsten des urtümlichen Reptils. Stirbt es aus, hätte dies dramatische Auswirkungen auf die gesamte Tierwelt der Mojave-Wüste.

Josef Glanz, Ö1-Wissenschaft

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