Die Auferstehung der Soziologie

Von der Ökonomie bedrängt, hat die Soziologie seit 30 Jahren keinen leichten Stand – und sich durch Lifestyle-Forschung selbst marginalisiert. Seit sie sich wieder mehr mit Fragen der Ungleichheit beschäftigt, sind ihre Ergebnisse wieder gefragter.

Bestes Beispiel ist der Soziologe Heinz Bude, der untersucht hat, wie sich Ungleichheiten in die Stimmung einer Gesellschaft übersetzt. Ein Interview über die wiederentdeckte Klassenfrage und die Gefühlswelt in der Gesellschaft, die von drei Gruppen dominiert wird: den Verbitterten, den Ignorierten und den Selbstgerechten.

science.ORF.at: Nach der Lehmann-Pleite 2008 und den folgenden Finanz- und Wirtschaftskrisen ist die Ökonomie stark kritisiert worden: Sie hätte die Krise nicht vorhergesehen, sei zu einseitig klassisch orientiert, biete zu wenige alternative Erklärungen. Hat sich auch die Soziologie als Disziplin etwas vorzuwerfen?

Heinz Bude

ÖAW/Elia Zilberberg

Heinz Bude ist Makrosoziologe an der Universität Kassel. Vergangene Woche hielt er die Karl Popper Lecture an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zum Thema “Wie ist die Stimmung im Land?“

Heinz Bude: Nein, weil sie unter der Deutungsdominanz der Ökonomen 20 Jahre lang ein relativ unwichtiges Dasein gefrönt hat. Die Soziologie hat sich lange nicht von der Idee erholt, dass es so etwas wie Gesellschaft gar nicht gibt, sondern nur Individuen, die rationale Übereinkünfte treffen. Sie hat darauf reagiert, indem sie die Theorie der rationalen Entscheidung übernommen hat, wodurch sie selbst in eine epistemologische Krise gekommen ist. Erst jetzt hat sich die Soziologie davon erholt. Es gibt heute eine internationale Debatte über öffentliche Soziologie, also die Idee, dass sie ihrer Rolle nur dann gerecht wird, wenn sie neben der Binnenrationalität der Wissenschaft – Publikationen in Fachzeitschriften, Kollegenkritik etc. – auch die Öffentlichkeit bedient.

Die Soziologie hat in den 1980er Jahren viel von Lifestyle erzählt und von Konsum-Milieus, auch davon, dass sich in der Mitte der Gesellschaft alle sozialen Unterschiede nivellieren. Die Klassenfrage schien verschwunden - war das rückblickend nicht etwas naiv?

Bude: Das ist schon richtig, aber das war auch ein Trend in der Gesellschaft. Viele, die heute den Neoliberalismus kritisieren, vergessen das. Reagan, Thatcher, Schröder und Blair sind ja nicht durch Putsch an die Macht gekommen, sondern wurden zum Teil mit großen Mehrheiten wiedergewählt. Es gab eine Tendenz der Gesellschaft, die sich nach einem Block des Kollektiven fast jubilierend als Ansammlung von Individuen begriffen hat. Alles, was wir heute an Entwicklung von subjektiven Rechten sehen, ist ein Ausdruck davon. Sie haben aber Recht, die Klassenfrage und die Frage der Ungleichheit sind zurückgekommen. Die Soziologie muss auch theoretisch umstellen, um diese Fragen auf interessante Weise zu beantworten. Denn es ist gar nicht so klar, woher diese Ungleichheit kommt. Das empirisch zu beantworten, kann ein gemeinsames Projekt von Soziologie und Ökonomie sein, die die Ungleichheit auch seit einiger Zeit entdeckt hat.

Neoliberale Politiker haben sich auch auf Wissenschaftler berufen …

Bude: … ich weiß, worauf Sie hinauswollen …

Nämlich?

Bude: Naja, sie wollen sagen, dass sich die Soziologie da wirklich was vorzuwerfen hat. Dass sie z. B. falsche Prognosen gestellt hat. Etwa, dass der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht. Das ist nicht der Fall. Wir leben in Deutschland und vermutlich auch in Österreich eher in einer Hyper-Arbeitsgesellschaft. Die Leute arbeiten individuell mehr denn je. Es gibt sehr viel mehr Mehrfachbeschäftigte. Jene, die bessere Jobs haben, arbeiten auch mehr. Das Arbeitsvolumen hat insgesamt zugenommen. Diese Prognose war also falsch. Es war auch falsch zu sagen, dass Kollektivorientierungen keine Rolle mehr spielen. Die Soziologie hat durch diese Deutungen an ihrer Selbstabschaffung mitgewirkt. Sie konnte nicht mehr deutlich machen, dass so ein Ding wie Gesellschaft überhaupt existiert – mit Folgen für das individuelle Handeln.

Heinz Bude im Gespräch

ÖAW/Elia Zilberberg

Heinz Bude beim Interview

Warum hat sich das wieder geändert? Oder anders gefragt: Reagiert die Soziologie auf gesellschaftliche Entwicklungen oder prägt sie diese mit?

Bude: Da gibt es das schöne Wort Max Webers von der ewigen Jungfräulichkeit der Soziologie: Die Soziologie muss immer bereit sein zur Totalrevision. Es wäre furchtbar, wenn sie der Gesellschaft nicht folgen würde und sich nötigenfalls nicht auch methodisch ändern würde. Das ist gut so, denn die Soziologie ist als Wissenschaft nicht so konsolidiert wie etwa die Volkswirtschaft. Die Ökonomie hat ihr grundsätzliches Modell, das sie an manchen Enden ändert, aber innerhalb ihres Modells. Modell-Platonismus ist für die Soziologie hingegen eine gefährliche Angelegenheit.

Ihr US-Kollege Michael Burawoy, ein bekennender Marxist, meint, dass sich Soziologie parteiisch engagieren soll. Ihre Aufgabe sei es, „die Menschen vor den Märkten zu schützen“. Stimmen Sie dem zu?

Bude: Nein. Und zwar nicht nur, weil ich kein Marxist bin, sondern auch weil das für mich eine zu enge Aufgabenstellung ist. Da halte ich es eher mit Karl Mannheim, der die Idee entwickelt hat, dass die Soziologie der Gesellschaft auf die Sprünge helfen soll, sich selbst zu verstehen. Dabei sollten wir Soziologen unsere eigenen Deutungen untereinander kontrollieren, aber auch die Öffentlichkeit suchen. Wenn wir sie nicht finden – und da stimme ich Burawoy zu – sollten wir diese Öffentlichkeit selber herstellen. Die Soziologie ist in der Zivilgesellschaft situiert und sollte wissen, dass sie nicht nur Beobachterin ist, sondern auch Akteurin der Veränderung.

In dem Sinne ist sie aber auch nicht unparteiisch?

Bude: Nein, sie ist parteiisch in dem Sinne, das sie einer gewissen Zukunft verpflichtet ist und etwas ermöglicht. Aber sie sollte sich nicht auf bestimmte Akteure festlegen, weil es ihre Aufgabe ist zu erkennen, dass Akteure sich ändern und ganz neue Akteure entstehen, mit ganz eigenen Vorstellungen und Möglichkeiten.

Sie haben in den 2000er Jahren viel zu Ungleichheit und Exklusion geschrieben, sich zuletzt aber als Stimmungs- und Angstsoziologe positioniert. Inwiefern helfen sie mit diesen Themen „der Gesellschaft auf die Sprünge“?

Bude: Weil ich über die Frage nachgedacht habe, wie sich die neuen Formen von Ungleichheit in die Gesellschaft hineinvermitteln. Meine Idee war, dass das nicht nur ein rein kognitiver Prozess ist, sondern auch etwas mit Gefühlen und stimmungshaften Wahrnehmungen von Veränderungen zu tun hat. Denken Sie etwa an das emotional hoch aufgeladene Phänomen der Demütigung. Demütigungen haben immer mit Prozessen von Degradierung zu tun. Und da wir aus einer Zeit mit großen Veränderungen in Betriebsstrukturen und zwischenmenschlichen Beziehungen kommen, wo Demütigungen eine große Rolle spielen, sollte sich die Soziologie damit beschäftigen.

Wie kann man diese Stimmungen empirisch untersuchen?

Bude: Indem man vorhandene Daten aus der Umfrageforschung unter Stimmungsbegriffen liest. Aber ich habe mit Kollegen auch selbst gezielt Stimmungen erhoben. Etwa nachdem 2010 der deutsche Bundespräsident Christian Wulff gesagt hat, dass der Islam zu Deutschland gehört. Wir haben ein Jahr später untersucht, wem dieses Bild eigentlich nicht passt. Als wir das ausgewertet und drei Gruppen herausgefunden haben, dachten wir uns: Ha, da haben wir einen Zugriff auf die Stimmungslage der deutschen Gesellschaft gewonnen! Eine Analyse, die bis heute stimmt.

Welche drei Gruppen sind das?

Bude: Die Ignorierten, die Selbstgerechten und die Verbitterten - drei Gruppen, die als Stimmungsträger für unsere Gesellschaft ganz wichtig sind.

In welchem Zusammenhang stehen sie zur Klassenfrage – also zu Besitz und Einkommen?

Bude: Die Ignorierten sind in Deutschland meistens in einfachen Dienstleistungsberufen: Sie arbeiten viel und haben nix zu lachen. Diese zwölf bis 14 Prozent der Beschäftigten fühlen sich übergangen und denken beim Thema Islam und Migration, dass sie auf ihren Jedermanns- und Jederfraus-Arbeitsmärkten mehr Konkurrenz bekommen und deshalb die Hierarchie des Hierseins verteidigen müssen.

Die Selbstgerechten leben in prekäreren Umständen in der Mitte der Gesellschaft. Sie sagen: Wir haben uns bemüht, eine kleine Immobilie zusammengespart, ein paar Bildungsinitiativen für die Kinder getätigt. Und das wollen sie sich von niemandem wegnehmen lassen. Das ist eine aggressive Selbstgerechtigkeit, die sehr verbreitet ist – was ich gar nicht moralisch kommentieren will, sondern nur zur Kenntnis nehme.

Die Verbitterten sind besonders interessant. Sie sind relativ gebildet und bezeichnen sich selbst als weltoffen. Sie verdienen relativ gut, sagen aber: Beim Islam hört sich der Spaß auf. Sie haben alle in der Tendenz Degradierungen erlebt oder zumindest die Erfahrung, dass sie die Dinge, die ihnen wichtig sind, nicht mehr haben anbringen können. Dazu gehören Leute aus dem mittleren Management und Ingenieure, die man in entsprechenden Positionen nicht mehr hat brauchen können. Sie eint eine Logik der Verbitterung, die auch mit dem Umbau der Betriebsstrukturen zu tun hat.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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