40 Jahre Charta 77 – (K)eine Bilanz

Die Charta 77 hat Verletzungen von Menschenrechten in der Tschechoslowakei kritisiert. Sind ihre Inhalte heute alle erfüllt? Der unsolidarische Umgang mit Flüchtlingen lässt daran zweifeln, wie sich auch bei einer Veranstaltung in Wien zeigte.

An der Diplomatischen Akademie sollte eigentlich eine Bilanz gezogen werden – doch das erwies sich als schwieriger als gedacht.

Rückblick ins Jahr 1977

Die Charta 77 forderte 1977, dass die UNO-Menschenrechtserklärung und die Schlussakte der Helsinki-Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von 1975 eingehalten werden sollten. Die Tschechoslowakei hatte beide Dokumente unterschrieben, daher war die harte Reaktion des Regimes auf die Charta teilweise überraschend.

Die tschechische Soziologin und Unterzeichnerin der Charta 77 Jirina Siklova erzählte: „Die Leute haben sich gefragt, wie es möglich war, dass die Charta 77 so einen großen Hass bei der kommunistischen Regierung hervorrief.“ Das Regime wurde nervös und schwieg die Charta tot.

Neben Siklova am Podium saßen die Schauspielerin Nika Brettschneider und der ehemalige tschechischen Außenminister Karel Schwarzenberg, der die Chartisten unterstützt hatte, unter anderem in seiner Funktion als Präsident der Internationalen Helsinki-Föderation für Menschenrechte ab 1984.

Jana Starek, Jirina Siklova, Nika Brettschneider und Karel Schwarzenberg

DA/Wozonig

Jana Starek, Jirina Siklova, Nika Brettschneider und Karel Schwarzenberg

Exilkontakte und breites Bündnis führten zum Erfolg

Während die Menschen in Tschechien sehr wenig über die Charta 77 erfuhren, war die mediale Aufmerksamkeit im westlichen Ausland groß. Erst dadurch hatte die Charta ihre Wirkung entfaltet, erinnerten sich die Diskutanten.

„Dass unsere Positionen nicht nur von der Staatspolizei wahrgenommen wurden und wir sie international präsentieren konnten, war für mich sehr wichtig“, erinnerte sich Brettschneider. Die Schauspielerin bekam nach der Unterzeichnung der Charta 77 ein Berufsverbot und suchte in Österreich um Asyl an. „Vieles lief damals über Wien, ohne die Exilverbindungen wäre es unmöglich gewesen, im Inland etwas zu machen“, erklärte Siklova.

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch das Europa-Journal: 23.6., 18:20 Uhr.

Dass die Chartisten aus unterschiedlichen politischen Lagern kamen, war wichtig für ihren Erfolg. Schwarzenberg dazu: „Das Kunststück Vaclav Havels war es, überzeugte Katholiken, frühere Kommunisten und Kommunisten, die das Regime ablehnten, an einen Tisch zu bringen. Da hat das Regime geholfen, weil es manche von ihnen zusammen eingesperrt hat.“

Ist die Charta 77 noch aktuell?

„Was haben die Inhalte der Charta 77 heute den Menschen noch zu sagen?“, fragte die Moderatorin Jana Starek vom Wiener Wiesenthal Institut. Diese Frage beantwortete das Podium einstimmig: „Die Charta ist Geschichte.“ So etwa Siklova: „Die Charta 77 gehört in die Zeit, in der sie geschrieben wurde. Für die jungen Leute heute ist sie ein historisches Dokument. Heute kann man täglich Proklamationen unterschreiben, aber deren Bedeutung ist glücklicherweise nicht mehr dieselbe wie in einem totalitären Regime.“

Der Versuch der Veranstalter, nach 40 Jahren Charta 77 eine Bilanz zu ziehen, blieb also beim Versuch, weil sie für die Diskussionsteilnehmer nicht mehr aktuell ist. Dieser Punkt war und ist aber in Tschechien nicht unumstritten. Nach der Wende 1989 diskutierten die Unterzeichner die Frage, ob die Charta noch weiter bestehen sollte, warf Starek ein: „Einige haben sich dafür stark gemacht, dass die Charta auf einer anderen Ebene weiter existieren möge als moralischer Imperativ.“

Unterzeichner der Charta 77 im Jahr 1983, darunter Vaclav Havel (2. v. l.) und seine Frau Olga Havlova

AP

Unterzeichner der Charta 77 im Jahr 1983, darunter Vaclav Havel (2. v. l.) und seine Frau Olga Havlova

Kritischer Geist heute unerwünscht

Viele dieser „Idealisten“ wären aber bald in die politische Bedeutungslosigkeit abgerutscht, meinte Schwarzenberg: „Die Widerständler gehen den Leuten schnell auf die Nerven nach dem Sturz eines totalitären Regimes. Das war auch in Österreich so, als man in den 50ern gesagt hat: ‚Schluss mit den KZlern in der Politik‘. Denn die Regimegegner sind ein mahnendes schlechtes Gewissen. Das hat man nicht sehr gerne.“ Die Menschen würden sich lieber um ihren Wohlstand kümmern und nicht über die Vergangenheit sprechen.

„Die Charta 77 ist ein moralischer Horizont und ihr geht es darum, die Wahrheit auszusprechen“, schloss Starek bezugnehmend auf Vaclav Havel die Diskussion. Zwar habe die Charta viel erreicht, erklärte die Historikerin im Gespräch nach der Veranstaltung, es gäbe etwa Meinungsfreiheit und keine Zensur mehr in Tschechien und der Slowakei.

Aber der kritische Geist der Charta 77 dürfe nicht begraben werden: „Hier geht es um moralische, universelle Werte. Leider wird das von einem großen Teil der Gesellschaft nicht mehr als notwendig erachtet. Heute wird es in Tschechien von vielen als Zumutung empfunden, dass man diese moralischen Fragen noch diskutieren möchte.“

Einsatz für Menschenrechte heute ohne „Charta“

Für Starek sind die Inhalte der Charta 77 nach wie vor aktuell, weil sie sich an den Menschenrechten orientieren: „Wir sehen das in der Flüchtlingsfrage, in der sich die Visegrad-Staaten heute schuldig machen. Das widerspricht dem Inhalt der Charta.“

Dass Flüchtlinge und Migranten in Tschechien auf viel Ablehnung stoßen, sieht auch Siklova als Problem. Wenn man sich heute für Menschenrechte einsetzen wolle, müsse man aber einen anderen Weg gehen als die Charta 77, erklärte sie: „Eine Proklamation wie die Charta wirkt nur in einem totalitären Regime, in dem es unmöglich ist, frei zu sprechen. In einer pluralen Gesellschaft braucht es andere Formen des Protestes.“

Welche Formen das sein könnten, ließ sie offen. Mit oder ohne Charta 77 müsse sich Tschechien den Menschenrechten stellen.

Katharina Gruber, Ö1-Wissenschaft

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