Hebammenkunst wird Kulturerbe

Die Hebammen in Kolumbien arbeiten unter äußerst prekären Bedingungen. In Dörfern fernab der Städte, in die nur selten ein Arzt kommt, spielen sie eine essenzielle Rolle. Ihre traditionellen Praktiken wurden nun als schützenswertes Kulturerbe anerkannt.

Die Hebammen und Geburtshelfer in der Pazifikregion Kolumbiens sind dort zur Stelle, wo es keine Ärzte, keine Krankenhäuser, keine Straßen gibt. Ihre seit Generationen überlieferten Methoden wurden nun vom kolumbianischen Kulturministerium in die Liste der schützens- und erhaltenswerten Traditionen aufgenommen. (PDF des Dokuments)

“In Kolumbien werden nicht-akademische Berufe unterschätzt”, so Alberto Escovar, Leiter der Abteilung Kulturerbe im Ministerium. “Wenn wir das traditionelle Wissen nicht schützen, gerät es in Vergessenheit”.

Afrokolumbianische Hebamme bei der Arbeit

Jaime Acuña/@jacunalezama:

Afrokolumbianische Hebamme bei der Arbeit

Das “Wunder des Lebens” begleiten

Sie nennen sich “Begleiterinnen des Wunders des Lebens” und nehmen ihre Berufsbezeichnung wörtlich: Sie stehen werdenden Müttern bereits vor der Schwangerschaft zur Seite und haben oftmals schon sie zur Welt gebracht. Sie kennen nicht nur die körperlichen Entwicklungen der Frauen, sondern ihre Familien, ihr Umfeld und ihre Probleme. Sie sind Vertraute, Ratgeberinnen, Mediatorinnen.

“Wir wissen, wann wir den Vater fernhalten müssen, weil er gewalttätig ist oder glaubt, das Kind sei nicht von ihm. Oder umgekehrt - wenn der Vater die Nabelschnur durchschneiden möchte, begleiten wir auch ihn. Wir sind dafür verantwortlich, die ersten Bande in der neuen Familie zu knüpfen”, so Manuela Mosquera, Leiterin des interethnischen Hebammen-Netzwerks Chocó (Rediparchocó), das gemeinsam mit dem Hebammenverband Asoparupa vor vier Jahren den Prozess auf Anerkennung als Kulturerbe initiiert hat.

Mündliche Überlieferung uralten Wissens

Mehr als 1.600 Hebammen praktizieren traditionelle Geburtshilfe in der Pazifikregion Kolumbiens, die sich vom Norden nach Süden die Westküste entlang erstreckt. Neben der ganzheitlichen Begleitung bestehen die traditionellen Praktiken aus dem Einsatz von Heilpflanzen, Massagetechniken und Ritualen. Die uralten Methoden werden von Generation zu Generation weitergegeben.

Im nördlichen Department Chocó sind 555 Frauen und 125 Männer registriert, die als traditionelle Geburtshelfer arbeiten – teilweise unter schwierigsten Bedingungen. In den weit abgelegenen Dörfern, die meist nur per Boot erreichbar sind, fehlt es an grundlegenden Utensilien: “Es gibt Hebammen, die mit einem einzigen Paar Sanitärhandschuhen arbeiten, das sie immer wieder mit Chlor reinigen. Das ist untragbar”, so Manuela Mosquera. Zumeist leisten sie ihre Arbeit unentgeltlich – der Großteil von ihnen muss einem anderen Brotberuf nachgehen, wie Bäuerin oder Minenarbeiterin.

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 23.6., 13:55 Uhr.

Als immaterielles Kulturerbe wurde zwar spezifisch nur die afrokolumbianische Geburtshilfe anerkannt, das Netzwerk Rediparchocó arbeitet aber auch mit zahlreichen indigenen Hebammen zusammen. In einigen wenigen Communities der Ethnie Embera wird von Hebammen verlangt, neugeborene Mädchen zu beschneiden. Eine Praktik, die zum Selbstverständnis als “Begleiterinnen des Wunders des Lebens” im Widerspruch steht und vom Hebammenverband abgelehnt wird. Manuela Mosquera setzt daher auf Bewusstseinsbildung in den Communities, in Zusammenarbeit mit Ärzten.

Hebamme mit Mutter und Baby der Ethnie Wounaan, in der Community Wounaan Phubuur im Chocó

Gabriel Rizar

Hebamme mit Mutter und Baby der Ethnie Wounaan, in der Community Wounaan Phubuur im Chocó

Bildung als Mittel zur Entwicklung

Die Gynäkologin Carolina Chavarro Ulloa ist eine von ihnen. Sie sieht in der Förderung der traditionellen Geburtshilfe eine immense Bereicherung für das kolumbianische Gesundheitssystem – ein System, in dem es den Hebammenberuf offiziell überhaupt nicht gibt. Chavarro Ulloa beruft sich auf Studien, die gezeigt haben, dass die Begleitung durch eine Hebamme die Notwendigkeit von Schmerz- und Narkosemitteln mindert, die Wahrscheinlichkeit chirurgischer Eingriffe während der Geburt senkt und das Wohlbefinden der Gebärenden erhöht (etwa hier oder hier).

“Es ist aber kein Geheimnis, dass in der traditionellen Geburtshilfe Fehler durch Unwissenheit begangen werden”, so die Gynäkologin. Umso wichtiger seien daher Schulungen und Workshops in den Communities – Gelegenheiten, bei denen auch die Ärzte selbst vom überlieferten Wissen lernen würden. Generell arbeitet der Hebammenverband eng mit Ärzten und Krankenhäusern zusammen, nicht gegen sie.

Wertschätzung der Frauen

Von der Anerkennung als immaterielles Kulturerbe, genauer gesagt, der Aufnahme in die “exklusive Liste althergebrachter und schützenswerter Traditionen”, erwarten sich die Hebammen mehr finanzielle Unterstützung für Utensilien, Schulungen und Vernetzung – und damit verbunden stärkere Wahrnehmung in der Bevölkerung, mehr Respekt und Wertschätzung.

Dies ist eng mit der Anerkennung des weiblichen Geschlechts an sich verbunden, wie die Anthropologin Diana Rosas Riaño beschreibt. Sie hat den Anerkennungsprozess für das Kulturministerium wissenschaftlich begleitet. Es gebe zwar männliche Geburtshelfer, der Großteil aber sei weiblich.

Die Initiative zur Aufnahme in die Liste der schützenswerten Traditionen sei vor allem von den Frauen ausgegangen. “Hebammen sind das verbindende Element einer Community. Die Aufnahme in die Liste ist nicht nur eine Anerkennung ihres traditionellen Wissens, sondern überhaupt der wichtigen Rolle und des sozialen Einflusses, den Frauen in diesen Gruppen haben”, so Rosas Riaño.

Carolina Chavarro Ulloa mit afrokolumbianischen Hebammen bei einem Workshop

Carolina Chavarro Ulloa

Carolina Chavarro Ulloa mit afrokolumbianischen Hebammen bei einem Workshop

Erster Schritt in Richtung Legalisierung

Und diese Anerkennung soll ein Schritt in Richtung Legalisierung des Hebammenberufes sein, wie es nicht nur von Seiten des Hebammenverbandes, sondern auch des Kulturministeriums heißt. “Die Anerkennung als Kulturerbe war der erste, der einfachste Schritt”, so Alberto Escovar aus dem Kulturministerium.

“Jetzt kommt die nächste Herausforderung – uns mit dem Gesundheitsministerium an einen Tisch zu setzen und Überzeugungsarbeit zu leisten, um den Hebammenberuf nicht nur am Papier zu schützen, sondern auch in der Praxis”. Ziel sei es, zu erreichen, dass die Geburtshelferinnen die Gebärenden in die Krankenhäuser begleiten dürfen.

Bis es soweit ist, muss das uralte Wissen weiterhin mündlich von Frau zu Frau weitergegeben werden. Durch den bewaffneten Konflikt und die daraus resultierenden Vertreibungen in die Städte geht das Wissen um die traditionellen Methoden nach und nach verloren. Mit der Anerkennung als immaterielles Kulturerbe, das geschützt und erhalten werden muss, ist zumindest ein erster Schritt gesetzt, um Wissen und Tradition vor dem Aussterben zu bewahren.

Caroline Haidacher, ORF Wissenschaft, aus Kolumbien

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