Vom Stau zum Megastau

In keiner Stadt ist der tägliche Verkehrsstau so extrem wie in der indonesischen Hauptstadt Jakarta. Dort ereignete sich letztes Jahr ein riesiges Verkehrsexperiment - mit ernüchterndem Fazit: Ohne Fahrverbote wurde alles nur noch schlimmer.

„Rush Hour“ heißt die Hauptverkehrszeit im Englischen - gelinde gesagt eine Übertreibung: Denn von „Rush“, von Eilen und Hasten kann in den meisten Metropolen dieser Welt keine Rede sein. Morgens und abends ergießt sich eine Blechlawine in die alsbald überlasteten Hauptverkehrsadern. Und dann gilt allzu oft: Nichts geht mehr.

In amerikanischen Großstädten wie New York, Washington und Atlanta verbringen die Menschen täglich zwei Stunden im Berufsverkehr. In Sao Paolo und Rio sind es laut Statistiken drei Stunden. Das zehrt naturgemäß am Nervenkostüm, ganz zu schweigen von Abgasen und Luftqualität.

„Stau-Weltmeister“ Jakarta

Am schlimmsten ist es in Jakarta, dem mit 30 Millionen Einwohnern zweitgrößten Ballungsraum der Welt. In der Hauptstadt Indonesiens gibt es keine U-Bahn und ein nur sehr unzureichend ausgebautes Bahnnetz. Die Folge: Der durchschnittliche Autofahrer absolviert in Jakarta pro Jahr mehr als 33.000 ungewollte Stopp-Manöver, Stau und Verkehr sind hier schon fast synonyme Begriffe. Was sich hier auf den Straßen abspielt, „ist schlicht furchtbar“, sagt Rema Hanna, Südostasien-Forscherin an der Harvard-University.

Autos und Motorräder im Verkehrsstau

BAY ISMOYO / AFP

Der tägliche Sillstand in Jakarta

Für die Wissenschaft hat dieser Umstand auch etwas Gutes. In Jakarta ereignete sich letztes Jahr ein riesiges Feldexperiment in Sachen Mobilität, ausgelöst durch eine kurzfristige politische Entscheidung. Die Regierung beschloss am 29. März 2016, eine seit Jahrzehnten bestehende Regelung binnen einer Woche außer Kraft zu setzen.

Die Regel sah vor, dass zu den Stoßzeiten ausschließlich Autos mit mindestens drei Passagieren in den Geschäftsbezirk fahren durften, inklusive der zwölfspurigen Stadtautobahn Jalan Sudirman, über die etwa die Börse, das Bildungsministerium und große Shopping Malls erreichbar sind.

Ähnliche Bestimmungen gibt es auch in den USA, in England und Spanien, wenngleich in deutlich milderer Variante: Hier sind meist nur einzelne Spuren für Fahrgemeinschaften reserviert. „In so brachialer Form wie in Jakarta wäre das in Europa wohl nicht durchsetzbar“, sagt Michael Meschik, Verkehrsforscher von der BOKU Wien.

Straßen endgültig verstopft

Hanna und ihr Kollege Benjamin Olken vom MIT reagierten jedenfalls vergangenes Jahr kurzerhand - und überprüften ab März und April die Verkehrsdichte in Jakarta via Handy-Daten und Google Maps. Resultat: Die Aufhebung des Fahrverbots für schwach besetzte Wägen verschlimmerte den Stau umgehend - auch auf zuvor relativ ruhigen Nebenstraßen.

Wie die Forscher im Fachblatt „Science“ schreiben, stieg der Zeitverlust am Morgen um die Hälfte, im Abendverkehr sogar fast auf das Doppelte. Womit bewiesen ist, dass die Regelung den Verkehr sehr wohl entlastet hatte. Beziehungsweise hätte, wäre sie nicht außer Kraft gesetzt worden.

Abendlicher Verkehrsstau mit Autos und Motorrädern

BAY ISMOYO / AFP

Jakarta: Abends das gleiche Bild

Für Michael Meschik ist das Resultat nicht sonderlich überraschend, ähnliche Erfahrungen habe man mit Fahrgemeinschaftsspuren in Madrid und Leeds gemacht - und sogar in Österreich: Auf der B127 von Rohrbach über Puchenau nach Linz ist ein Fahrstreifen für Autos mit drei oder mehr Insassen reserviert.

Meschiks Kollegen vom BOKU-Institut für Verkehrswesen haben die Straße 1999 untersucht: „Damals fanden wir eine Zeitersparnis von etwa 20 Minuten auf diesem drei Kilometer langen Teilstück.“

Beruf: Beifahrer

Dass sich die Stadtregierung in Jakarta trotz der Sinnhaftigkeit der Regelung für eine Abschaffung entschloss, hat andere Gründe. Dort hatte sich nämlich im Laufe der Jahre eine „Beifahrer-Industrie“ entwickelt: Vornehmlich arme Bewohner boten sich und ihre Kinder als „Jockeys“ an, als professionelle Passagiere, die gegen ein Entgelt von ein bis zwei Dollar zustiegen und die Lenker bis in den Geschäftsbezirk begleiteten.

Das ging mitunter so weit, dass Babys für die mobile Dienstleistung medikamentös ruhig gestellt wurden. „Das ist natürlich ein Auswuchs, den man nur durch genaue Kontrollen in den Griff bekommen kann“, sagt Meschik.

Kontrollen sind wohl auch in Ländern mit geringerem Wohlstandsgefälle unverzichtbar. In der Fachliteratur werden Fälle zitiert, da Autofahrer aufblasbare Puppen auf dem Beifahrersitz platziert hatten, um die automatische Erfassung via Kamera auszutricksen. Doch das sind, wie Meschik betont, bloß skurrile Einzelfälle.

Den Ausbau von Fahrgemeinschaftsspuren in Österreich hält er für „zumindest überlegenswert“. Hierzulande säßen im Schnitt nur 1,3 Personen im Auto, international betrachtet ein sehr niedriger Wert. „Die Hauptaufgabe des Verkehrs ist der Transport von Menschen und Gütern. In Österreich transportiert der Verkehr vor allem eines: Autos.“

Robert Czepel, science.ORF.at

Mehr zu diesem Thema: