Politische Bildung gegen Radikalisierung

Welche Alternativen zu nationalistischen und religiösen Extremen gibt es? Der deutsche Sozialphilosoph Oskar Negt hält politische Bildung für ein Mittel gegen Identitätsverlust und Radikalisierung.

Schon vor Jahren sprach Negt von einer „Erosionskrise“ in Europa. „Ich habe schon sehr früh Tendenzen der Lockerung von Loyalitäten und Bindungen festgestellt, aber eigentlich ist das erst jetzt wirklich erkennbar“, so der 83-Jährige, der im Rahmen der 34. Sommerakademie Burg Schlaining im Burgenland zu Gast sein wird.

Verlässliche Beziehungen zu Institutionen würden dadurch infrage gestellt, diese Tendenzen führten dazu „dass wir von einer Welt sprechen, die aus den Fugen geraten ist“. Europa sei dabei das „führende Zentrum der Veränderung“.

Populismus durch Bindungsverlust

Diese Veränderung sei zwar nicht ausschließlich negativ bzw. pessimistisch zu werten, meinte Oskar Negt in Anspielung auf etwa den Wahlerfolg der liberalen Bewegung Emmanuel Macrons in Frankreich. Aber gegenwärtig bestehe eine „Tendenz der Verwahrlosung der etablierten politischen Sitten“. Früher wurde laut dem 82-Jährigen noch mehr in „Bindungen“ investiert, um „Nähebereiche“ zu erzeugen.

Veranstaltung:

Vom 9. bis zum 14. Juli findet die Sommerakademie an der Burg Schlaining statt.

Link:

Programm der Sommerakademie (PDF)

„Geraten diese aber in Erosion, kann man davon sprechen, dass eine grundlegende Veränderung des politischen Herrschaftssystems erfolgt.“ In den vergangenen Jahren erfolgte dies hauptsächlich zugunsten populistischer oder gar extremistischer Parteien oder Bewegungen, auch wenn Negt unter Berufung auf die zahlreich existierenden Menschen- und Bürgerrechtsbewegungen betont, dass „nicht alles in Unordnung gerät“.

Bildung würde helfen

Der Rechtspopulismus und -extremismus erstarke hauptsächlich, weil sich „der Angstrohstoff in der Gesellschaft spektakulär vergrößert hat“, sagt der renommierte Sozialwissenschaftler. Die Populisten böten viele „Bindungsangebote“.

„Sie bieten an, die zerstörten Bindungen zu den Nationalstaaten zu ersetzen. Außerdem offerieren sie schnelle und reaktionäre Lösungen“, erklärt Negt, der bis zu seiner Emeritierung 2002 an der Leibnitz-Universität Hannover lehrte.

Mit Bildung, vor allem politischer Bildung, könnte hier Abhilfe geschaffen werden. Denn Demokratie sei ein nie abgeschlossenes Projekt, es bedürfe einer konstanten Anstrengung, eines konstanten Lernens.

Investitionen in das Gemeinwesen

Neben zunehmender Angst in der Gesellschaft ortet der Wissenschaftler, der bei Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas studierte, auch veränderte Strukturen in der Arbeitsgesellschaft als Ursache für den steigenden Identitätsverlust. Je mehr Rationalisierung, also je mehr der Mensch durch den Computer ersetzt wird, „desto mehr nagt das an der Identität des Menschen, weil er sich in der Tätigkeit nicht wiederfindet“, konstatiert Negt.

Und auch hier kann Bildung helfen. Negt: „Bildung halte ich für ein wesentliches Mittel der Identitätsentwicklung“, auch wenn sie heutzutage aus betriebswirtschaftlichen Gründen abgebaut werde.

Er plädiere deshalb für mehr Investitionen in das Gemeinwesen, die Kommunikation der Menschen untereinander und den Austausch der Kulturen. Im Augenblick sei das leider in Europa nicht festzustellen, hier läge der Fokus zu sehr auf finanzpolitischen Überlegungen. Doch, warnt Negt: „Die betriebswirtschaftliche Verengung der Vernunft ist eine gefährliche Tendenz.“

science.ORF.at/APA

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