Situation für Akademiker weiterhin prekär

Nach dem Putschversuch in der Türkei haben Tausende Akademiker und Akademikerinnen ihre Jobs verloren. Existenzverlust, Drohungen und Terrorverfahren zwangen Hunderte ins Exil. Ein Jahr später ist die Lage für viele von ihnen noch immer prekär.

Als Ayse Yildirim im Oktober 2016 für eine wissenschaftliche Konferenz nach Deutschland aufbrach, rechnete sie nicht damit, dass sie nicht in die Türkei würde zurückkehren können. Die Jusprofessorin - die in Wahrheit anders heißt, ihren richtigen Namen aber nicht veröffentlicht sehen will - gehört zum Netzwerk „Akademiker für den Frieden“, das sich mit einer Petition für ein Ende der Militäreinsätze in den kurdischen Gebieten einsetzte.

Terrorvorwurf nach Friedenseinsatz

Mehr als 1.100 Wissenschaftler unterschrieben den Aufruf, eine Initiative, der im Mai 2016 der Aachener Friedenspreis verliehen worden war. Die türkische Regierung jedoch reagierte mit Härte. Mehrere Unterzeichner wurden vorübergehend festgenommen, die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Terrorismusvorwürfen - auch gegen Yildirim. Nachdem sie während ihres Kurzaufenthalts in Deutschland per Notstandsdekret aus dem Dienst entlassen wurde, entschloss sie sich aus Angst vor einer Festnahme dafür, nicht zurückzukehren.

Proteste von Uni-Angestellten und Studierenden an der Uni Ankara im Februar 2017

AFP - Adem Altan

Proteste von Uni-Angestellten und Studierenden an der Uni Ankara im Februar 2017

Jetzt lehrt Yildirim in Deutschland, ihren Studenten stellt sie sich als in der Türkei gelistete „Terroristin“ vor. „Seit 15 Jahren habe ich Menschenrechte unterrichtet und was es heißt, dem ‚bürgerlichen Tod‘ ausgeliefert zu sein“, sagt Yildirim. Jetzt habe sie ihn selbst erlitten. Denn nach ihrer Entlassung habe sie nicht nur alle Versorgungsansprüche wie ihre Pension verloren. Sie existiere auch als türkische Staatsbürgerin offiziell nicht mehr - obwohl sie die türkische Staatsbürgerschaft noch besitzt.

Yildirim beklagt, die türkische Botschaft in Berlin verweigere ihr alle offiziellen Dokumente wie Geburtsurkunde oder Ausweispapiere, da ihre Personalausweisnummer als gesperrt angezeigt werde. Ihrem Anwalt werde ohne entsprechende Vollmacht die Anfechtung dieser Sperrung verweigert. „Aber die Anwaltsvollmacht kann ich wiederum nicht beantragen“, sagt Yildirim - denn dafür brauche sie die Botschaft. „Es ist kafkaesk. Das einzige Papier, das die Botschaft uns auszustellen bereit ist, ist ein Rückreisedokument in die Türkei.“

Mehr als 100.000 Staatsbedienstete entlassen

In der Türkei wurden seit dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli 2016 landesweit mehr als 100.000 Staatsbedienstete entlassen, darunter Tausende Akademiker, aber auch Polizeibeamte, Richter, Staatsanwälte und Ärzte. 15 Universitäten wurden wegen angeblicher Verbindungen zur Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, den die türkische Regierung für den Putschversuch verantwortlich macht, ganz geschlossen.

In einem kürzlich veröffentlichten Bericht kritisiert die Menschenrechtsorganisation Amnesty International die Massenentlassungen in der Türkei als „willkürlich“ und „politisch motiviert“. Zehntausende Reisepässe wurden über Nacht annulliert.

Anhaltender „Brain Drain“

„Es gibt keine wirksamen Rechtsmittel, um die Entlassungen anzufechten“, erklärt die Juristin Yildirim. „Entlassene Akademiker haben nicht die Möglichkeit, ihre Jobs zurückzubekommen oder neue Pässe zu beantragen.“ Wissenschaftler standen in der Türkei schon immer unter der Kontrolle des Staates, doch nach dem Putschversuch hat sich der Druck entscheidend erhöht. Die Folge ist ein anhaltender „Brain Drain“ aus der Türkei - also eine Flucht von Intelligenz.

So wie Yildirim haben viele Akademiker aus der Türkei das Exil gewählt - oder wählen müssen. Das amerikanische Solidaritätsnetzwerk „Scholars at Risk“, das in ihrer Heimat bedrohten Wissenschaftlern im Ausland Zuflucht bietet, verzeichnete seit dem 15. Juli 2016 mehr als 300 Anträge von Akademikern aus der Türkei. Das ist mehr als in allen 15 Jahren seit der Gründung der Organisation zusammengenommen.

Großkundgebung in Istanbul, Abschluss des "Marsches für Gerechtigkeit" am 9. Juli 2017

AFP - Yasin Akgul

Großkundgebung in Istanbul, Abschluss des „Marsches für Gerechtigkeit“ am 9. Juli 2017

Eingeschüchtert ins Exil

Eine Akademikerin, die ihren Namen aus Sicherheitsgründen ebenfalls nicht nennen will, wollte ihrer Kündigung zuvorkommen. Jetzt wartet sie in einem europäischen Land auf ihre Papiere für die Einreise nach Deutschland, wo sie im Herbst eine Forschungsstelle antreten wird. Auch sie unterzeichnete die Friedenspetition. Daraufhin wurde sie von Studenten an ihrer Universität als „Verräterin“ beschimpft, an ihrer Bürotür wurden Drohnachrichten hinterlassen. Entlassen wurde sie nicht, aber der psychologische Druck war enorm, sagt sie heute.

„Nach dem Putschversuch nahm das Gewaltpotenzial zu“, erinnert sie sich. „Ich fühlte mich gefangen zwischen den Drohungen des Staates und den Drohungen auf der Arbeit.“ Nach einem besonders gewalttätigen Polizeiangriff auf eine friedliche Protestaktion an ihrer Universität im Februar beschloss sie, die Türkei zu verlassen.

Europas Mitverantwortung

Da sie ihr Studium mit einem staatlichen Stipendium finanzierte, war sie gesetzlich verpflichtet, mindestens acht Jahre an einer türkischen Universität zu arbeiten. Jetzt muss sie ihre Schulden zurückzahlen - erst recht, weil sie hofft, eines Tages doch noch zurückkehren zu können in ihre Heimat. „Ich musste einen Kredit aufnehmen“, sagt sie.

Die Akademikerin findet, dass Europa Mitschuld trägt an dem, was jetzt in der Türkei passiert. „Wenn die EU nicht den schmutzigen Flüchtlingsdeal mit der Türkei abgeschlossen hätte, hätte sich die Lage in der Türkei nicht so sehr verschlechtert“, sagt sie wütend. Damit habe sich Europa abhängig gemacht von Ankara - und der türkischen Regierung einen Freischein für Menschenrechtsverletzungen erteilt. „Europa macht sich zum willigen Komplizen der Türkei.“

Constanze Letsch/dpa

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