Individualismus weltweit auf dem Vormarsch

Die Menschen handeln und denken zunehmend nach individuellen Werten. Und zwar nicht nur im Westen, sondern weltweit, wie eine umfangreiche neue Studie zeigt. Die einzige Ausnahme: China.

Mehr Fälle von Narzissmus und steigende Scheidungsraten: Das fällt dem Psychologen Henri Santos von der University of Waterloo in Kanada ein, wenn er Beispiele für den wachsenden Individualismus nennen soll. Das Phänomen „wurde bisher vor allem in den USA untersucht. Unsere Daten zeigen aber ganz klar, dass die meisten Länder in diese Richtung tendieren.“

Daten aus über 50 Jahren

Gemeinsam mit Kollegen hat Santos soeben eine Studie vorgestellt, die Handlungen und Wertvorstellungen rund um die Pole „kollektiv“ und „individuell“ analysiert hat. Kollektive Kulturen, so definieren das die Forscher, betonen, dass Menschen stark miteinander in Beziehung stehen. Familienbeziehungen und soziale Ähnlichkeit sind ihnen wichtig.

Studie

“Global Increases in Individualism", Psychological Science, 13. 7. 2017 (Preprint-Version)

Individualistische Kulturen hingegen sehen Menschen als autonome und selbstzentrierte Wesen, die vor allem ihre Einzigartigkeit und Unabhängigkeit betonen. Gradmesser für beide Varianten sind etwa die Größe von Haushalten, die Anzahl allein lebender Menschen und Scheidungsraten.

Zwölf Prozent mehr Individualismus

Über einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren haben die Psychologen dazu Daten aus knapp 80 Ländern – ohne Österreich - durchforstet und neu ausgewertet.

Dabei zeigte sich weltweit der klare Trend zu mehr individuellen Werten und ebensolchem Verhalten. Statistische Methoden konnten das sogar in eine Zahl fassen: Zwölf Prozent mehr Individualismus gibt es demnach heute im Vergleich zu 1960.

Zwar gebe es nach wie vor große Unterschiede zwischen Ländern, aber der Trend sei fast überall gleich. In nur vier Ländern sei individuelles Verhalten weniger geworden (Mali, Malawi, Malaysia und Kamerun), in fünf Ländern individuelle Wertvorstellungen gesunken (Armenien, China, Kroatien, Ukraine, Uruguay).

Wirtschaftsentwicklung ist am wichtigsten

Größter Faktor für die Zunahme von Individualismus ist laut der Studie die sozioökonomische Entwicklung eines Landes. Je reicher ein Land, desto mehr verliert Kollektivismus an Reiz. „China ist die Ausnahme dieses Musters“, schreiben die Autoren in einer Aussendung.

Das Land mit den atemberaubenden wirtschaftlichen Wachstumsraten zeigt eine Zunahme kollektiver Werte. „China hat eine komplexe sozioökonomische Geschichte“, fällt dazu den Psychologen ein. „Es wird sich deshalb lohnen, dieses Land in Zukunft genauer zu untersuchen.“

Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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