Mit „Sherlock“ in die Tiefen des Gehirns

Das menschliche Gehirn zerlegt alle Sinneseindrücke in kleine Happen, um sie verarbeiten zu können. Forscher aus Princeton konnten nun zeigen, wo diese Teile wieder zum großen Ganzen werden - und zwar mit Hilfe eines Meisterdetektivs.

Wie bei einem großen Puzzle setzt er die einzelnen Informationsbausteine Stück für Stück zusammen bis das Gesamtbild klar wird. Seit 2010 löst Sherlock Holmes für die BBC rätselhafte Fälle im London der Gegenwart - ohne Pfeife im Mundwinkel, dafür ist das Smartphone stets griffbereit. Zu den Fans der Fernsehserie gehören auch der Neurowissenschaftler Chris Baldessano und sein Team vom Princeton Computational Memory Lab. Für ihre aktuelle Studie haben sie Daten von Experimenten ausgewertet, in denen „Sherlock“ eine tragende Rolle gespielt hat.

Information in Häppchen

Die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer wurden in zwei Gruppen geteilt: Eine sah sich die erste Folge von „Sherlock“ an, die andere Gruppe hörte lediglich eine Inhaltsbeschreibung. Währenddessen wurde das Gehirn aller Probanden in einem Funktionalen Magnetresonanz Tomographen (fMRI)gescannt, um die Aktivitäten in den verschiedenen Hirnregionen zu analysieren. Chris Baldassano wertete diese Daten dann mit seinem Team aus. Er kam zu dem Schluss, dass weitaus mehr Teile des Gehirns an der Informationsaufbereitung beteiligt sind, die schließlich unsere Langzeitgedächtnis speist.

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 3.8., 13:55 Uhr.

Der grundlegende Vorgang ist schon länger bekannt: Auf das menschliche Gehirn strömen andauernd neue Informationen ein. Um daraus neue Ideen zu gewinnen bzw. sich die wichtigen Dinge zu merken, zerlegt das Gehirn diese Eindrücke in kleinere Teile, die es dann wieder zusammenfügt. In der Kognitionspsychologie wird dieser Vorgang als „Chunking“ bezeichnet. Baldassanos Studie zeigt nun, dass dieses „Chunking“ zeitlich verzögert auf verschiedenen Ebenen des Gehirns passiert und die Wahrnehmungsblöcke immer größer werden.

Wahrnehmung entsteht in „Standardeinstellung“

Während die neuronale Bild- und Tonverarbeitung kürzere Aktivitätsmuster zeigten, kam es in höheren Hirnregionen zeitversetzt zu längeren Blöcken bei den Aktivitätsmustern. Das zeigte sich den Probanden, die fernsahen und bei denen, die eine Zusammenfassung hörten, gleichermaßen. Für den Neurowissenschaftler repräsentieren diese Teile des Gehirns eine höhere Verarbeitungsstufe. Dazu gehört das sogenannte Default Mode Network, das gewissermaßen für den Ruhezustand notwendig ist. Diese „Standardeinstellung“ ist normalerweise dann aktiv, wenn Menschen tagträumen, an die Vergangenheit denken oder sich die Zukunft ausmalen.

Die Aktivitäten, die Baldassano und sein Team beobachtet haben, würden daraufhin deuten, dass hier kleiner Teile zu größeren Wahrnehmungsblöcken zusammengefügt werden, so der Neurowissenschaftler. Für das Experiment bedeutet das: Das Gehirn setzte die Fragmente des Films zu einer Geschichte zusammen und zwar in beiden Gruppen. Eine Subgruppe, die das Princeton Computational Memory Lab zusätzlich eingefügt hatte, zeigte ähnliche Ergebnisse. Hier hatten die Probanden den Inhalt bereits gehört, bevor sie die Folge „Sherlock“ gesehen hatten. Hier wurde das Netzwerk für die größeren Zusammenhänge früher aktiv, als bei denen, die die Inhalte nicht kannten.

Direkte Verbindung um Gedächtnis

In einem zweiten Experiment wurden die Probandinnen und Probanden gebeten, die Sherlock-Folge nachzuerzählen, ebenfalls im fMRI-Scanner. "Hier konnten wir nachverfolgen, wie das Gehirn diese größeren Teile reaktiviert. Baldassano geht davon aus, dass dieser Verarbeitungsprozess von kleinen Happen zu zusammenhängenden, größeren Teilen direkt mit dem Langzeitgedächtnis zu tun hat bzw. diesem dienen soll. „Wenn wir die Probanden fragen, die Folge nachzuerzählen, dann ruft ihr Gehirn einen Baustein nach dem anderen auf, in der Reihenfolge, in der sie abgespeichert wurden, und baut daraus die Geschichte“, so der Neurowissenschaftler.

Die direkte Verbindung zum Langzeitgedächtnis sehen die Forscherinnen und Forscher aus Princeton auch wegen einer anderen Beobachtung: Am Ende der längeren Aktivitätsblöcke kam es auch im Hippocampus zu einer Aktivierung - eine Hirnregion, die auch für die Erinnerung zuständig ist. Je stärker diese Aktivierung war, desto besser konnten sich die Probanden an die Inhalte, die sie gesehen hatten, erinnern. „Wir argumentieren, dass der Hippocampus dieser größeren Brocken protokolliert und damit ein geordnetes Erinnern möglich macht“, so Baldassano.

Marlene Nowotny, Ö1-Wissenschaft

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