Emanzipation macht geistig fitter

Mehr Gerechtigkeit zwischen Männern und Frauen ist nicht nur eine soziale Frage, sondern wirkt sich auch auf die Gesundheit aus. Laut einer neuen Studie sind Frauen in emanzipierten Ländern im Alter geistig fitter als jene in konservativen Ländern.

„Wir wissen, dass unsere geistige Leistungsfähigkeit im Laufe des Lebens abbaut“, erklärt die Studienautorin Ursula Staudinger, im Gespräch mit science.ORF.at. Menschen, die im Alltag geistig mehr angeregt werden, sind davon nicht so stark betroffen, sagt die Direktorin des Zentrums für Alternsforschung an der Columbia University in New York.

Wer im Leben hingegen „nur“ für die eigene Familie putzt, kocht und Kinder betreut, hat laut ihrer Studie im vorgerückten Alter kognitive Nachteile: Frauen, die diesen traditionellen Rollenbildern folgen, haben etwa ein schlechteres Erinnerungsvermögen und einen ebensolchen Orientierungssinn.

Multitasking als Gehirntrainer

Staudinger und ihre Kollegen haben sich eine Reihe vorhandener Studien zu dem Thema jetzt genauer angesehen. Insgesamt analysierten sie über 200.000 Testergebnisse von Personen im Alter zwischen 50 und 93 Jahren. Ergebnis: In 19 der 27 untersuchten Länder sind Frauen geistig besser in Form als Männer.

Den Spitzenplatz belegten die Schwedinnen. Ihr Gehirn ist um zehn Prozent fitter als das der männlichen Landsleute. Einen ähnlichen Vorteil hatten Frauen aus den USA, Dänemark und den Niederlanden - die Österreicherinnen liegen mit einem Plus von vier Prozent im Mittelfeld.

In acht Ländern sieht die Geschlechterverteilung umgekehrt aus, hier liegen die Männer vorne: etwa in Russland, China und Indien. Das Team um Staudinger glaubt, dass die Ergebnisse mit den unterschiedlichen Niveaus von Gleichberechtigung zusammenhängen. Um die These zu überprüfen, haben die Forscher einen „Egalitätsindex“ der Länder aufgestellt und siehe da: Je emanzipierter ein Land, desto geistig fitter die Frauen im Alter.

Warum das so ist? „Wir vermuten, dass Frauen, die am Arbeitsmarkt beteiligt sind, eine Doppelrolle haben. Sie arbeiten, sind aber auch Mütter, die ihre Kinder aufziehen, und übernehmen oft auch noch die Pflegetätigkeit für die Eltern“, so Staudinger. Frauen würden in gleichberechtigteren Gesellschaften mehr „Multitasking“ betreiben, und das sei ein gutes Training für das Gehirn.

Traditionelle Rollen verhindern Fortschritt

Der Fortschritt in emanzipierten Gesellschaften geht übrigens nicht zu Lasten der Männer: Das geistige Niveau beider Geschlechter steigt generell von Generation zu Generation an - das habe vor allem mit der Ausdehnung des Bildungssystems zu tun, sagt Staudinger.

„Wenn Frauen aber in einem Land leben, in dem sie aufgrund des kulturellen Werts, dass Frauen zuhause bleiben und Männer arbeiten gehen, kürzere oder gar keine Ausbildungszeiten haben, dann können sie an diesen Fortschritten nicht teilhaben.“

So etwa in Ländern mit traditionellen Geschlechterrollen, wie Ghana – dem Schlusslicht der Länderliste: Die kognitiven Fähigkeiten der Frauen waren dort im Schnitt sieben Prozent schlechter als die der einheimischen Männer.

Bildung, Arbeit und Kultur maßgeblich

Neben Bildungs- und Berufsstand sehen die Forscher aber auch noch einen anderen Mechanismus. Staudinger: „Wir gehen davon aus, dass auch die unterschiedlichen Einstellungen, die wir ja im Kopf mit uns herumtragen, starken Einfluss auf den Erhalt der kognitiven Fähigkeiten haben.“

Ob wir unser Gehirn auf Trab halten, hängt also auch stark von unserer kulturellen Umgebung ab. „Daraus entsteht natürlich eine enorme Verantwortung für Menschen, die die Umgebung für andere gestalten“, Staudinger appelliert aber nicht nur an Politiker und Arbeitgeber: „Das gilt natürlich auch für jeden Einzelnen, nach dem Motto: Geben wir unserem Gehirn etwas zu tun oder sind wir eher bequem und lassen es schlafen?“

Anita Zolles, science.ORF.at

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